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Totenstadt

Totenstadt

Titel: Totenstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Hodge
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verloren gehst.«
     
    Es war ein Hafen der bruchstückhaften Identitäten, in dem Magenta und ihre beiden Mitbewohnerinnen in ihrem Apartment in der Melpomene Street lebten. Sie wohnten in einem alten mit Schindeln bedeckten Haus, an dessen Mauern die Farbe abblätterte und das von einem abgenutzten Eisenzaun umgeben war, dessen Tor in den Scharnieren auseinanderfiel. Magenta brachte ihn in ihr Zimmer und machte sich dann daran, sein Gesicht gründlicher zu reinigen. Sie zeigte ihm, wie er ins Badezimmer kam, und war dann aus der Tür, bevor er in dieser ersten Nacht einschlief.
    Ihre Mitbewohnerinnen Lacey und Jasmine waren ihr ausgesprochen ähnlich, wie er später herausfand. Als sie einander vorgestellt wurden, war Napolean praktisch blind, aber er konnte trotzdem ausgezeichnet hören. Jasmine verdiente ihren Lebensunterhalt auf der Bühne eines Dragqueen-Kabaretts, während Lacey wie Magenta vornehmlich auf der Straße arbeitete. Sie waren Straßennutten, die betrunkene Touristen und Versammlungsmitglieder übers Ohr hauten oder jenen zu Diensten waren, die einen etwas ausgefalleneren Geschmack hatten.
    Das war seltsam und für ihn völlig neu. Der Anblick von Männern, die wie lüsterne Frauen aussahen, war an sich kein Schock mehr für ihn. Schon als Junge in Haiti war dies ein so alltäglicher Anblick, der schon fast als normal galt: Feiernde, die sich an Festtagen versammelten und die man Rara-Banden nannte, Männer in Satinkleidern, die in schillernden Farben glänzten und einen starken Kontrast zu den trostlosen kleinen Städten bildeten, wenn sie darin die Straßen entlangtanzten. Sie wurden als subversive Elemente betrachtet und durften die größeren Städte nicht betreten, aber auf dem Land gab es sehr viele von ihnen, und sie waren auch sehr unterhaltsam.
    Aber die Bewohner von Magentas Apartment unterschieden sich sehr von ihnen. Sie hielten sich wirklich für Frauen, auch wenn es eigentlich keinen Grund für diese Maskerade gab. Napolean nahm an, dass er darauf viel feinfühliger reagierte, weil er aufgrund der Schwellungen kaum etwas sehen konnte. Ihr Anblick mochte seine Augen täuschen, aber nicht seine Ohren. Aber es war auch ein gewisser Geist vorhanden, der alles andere überwog. Diese feminine Seite war in ihnen sehr ausgeprägt; sie waren eher traurige Frauen, die ins falsche Geschlecht hineingeboren und somit nicht komplett waren. Frauen, die verzweifelt etwas begehrten, das sie niemals besitzen würden. Aber sie waren nichtsdestotrotz Frauen. Und wenn sie sich so sahen, dann konnte er das auch tun.
    Er musste seine Vorstellungskraft nicht einmal groß bemühen.
    In ihrem Heim fand er einen seltsamen Frieden, es war fast so, als würde er sich in einem Kloster aufhalten. Lacey und Jasmine neckten ihn anfänglich – sie fragten sich laut, ob er wohl als Nächstes ihr Bett aufsuchen würde, und dann lachten sie schallend –, aber schon bald behandelten sie ihn wie einen weiteren Mitbewohner.
    Hier hatte er viel Zeit zum Nachdenken. Er spielte seine Musik auf Magentas Ghettoblaster, der auf ihrer Kommode stand, lag auf dem Bett oder saß auf dem Sofa im Wohnzimmer herum. Es fühlte sich unter seinen Händen klapprig und zerschlissen an, und soweit er wusste, schlief Magenta hier, wenn er in ihrem Bett lag.
    Hier war er nun, verloren … blind … und während sein Sehvermögen bald zurückkehren würde, so galt das nicht für sein früheres Leben. Was wusste er schon von der Welt, die sich nicht um Andrew Jackson Mullavey drehte? Offenbar nur genug, um ausgeraubt zu werden, und das war schon alles.
    »Deine Augen sehen heute viel besser aus«, sagte Magenta nach einer raschen Untersuchung zu ihm. »Ich wette, morgen kannst du sie aufmachen.«
    Es war Sonntag, früher Nachmittag, und er konnte die Seide ihres Kleides rascheln hören. Er saß am Küchentisch und berührte mit den Fingerspitzen ein Glas Orangensaft. Im Wohnzimmer lief ein Film im Fernsehen, die billigen Lautsprecher gaben die Dialoge derart dröhnend wieder, dass alle Stimmen wie das Summen von Insekten klangen. Lacey beschwerte sich, sie habe einen üblen Geschmack im Mund und in der letzten Nacht zu viele Freier gehabt, und Jasmine riet ihr, ein stärkeres Pfefferminzbonbon zu benutzen, wenn sie auf der Straße war, und außerdem solle sie die Klappe halten, da sie Humphrey Bogart nun mal liebte.
    »Ich werfe dich nur sehr ungern raus, du bist knuddelig wie Grübchen auf einem knackigen Hintern, aber Süßer … du weißt,

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