Totenstadt
er ging zur Küche. Auf dem Tisch lag ein kleiner Poststapel, seine eigenen und die Briefe, die sie bereits geöffnet hatte, weil sie sie beide betrafen. Aber dieses Mal lag etwas anderes oben drauf. Ein Briefumschlag, handbeschriftet, auf dem in einfacher Blockschrift nichts als sein Name stand. Er hielt ihn hoch und glaubte schon zu wissen, was sich darin befand. Es fühlte sich an wie eine Diskette.
»Was ist das?«
»Oh ja«, rief April. »Helen Greenwald hat das heute vorbeigebracht.«
Er hatte den Briefumschlag bereits aufgerissen. Da war keine Nachricht, nur diese kleine Diskette, ein Quadrat aus beigefarbenem Plastik, das in seiner Hand lag.
»Helen sagte, dass sie das heute in ihrem Bankschließfach gefunden habe. Ich nehme mal an, dass sie Leonards Testament holen wollte. Ich habe sie nicht gefragt. Sie hat nur gesagt, dass es da drin gewesen sei.«
»Ich frage mich, warum sie es nicht ins Büro gebracht hat.«
April zuckte mit den Achseln. »Denk doch mal darüber nach, Justin. An diesem Ort erinnert sie einfach alles an Leonard. Vielleicht war sie noch nicht bereit, sich dem zu stellen.«
Das war gut möglich. Len hatte für Segal/Goldberg gelebt, und zwar in einem Ausmaß, das Justin nie erreichen würde. Und er konnte sich des immer stärker werdenden Eindrucks nicht erwehren, dass er möglicherweise genau das in der Hand hielt, was ihm Leonard in der fraglichen Nacht nicht mehr sagen konnte.
Er hatte keine große Hoffnung, aber er nahm die Diskette mit in Aprils Büro. Sie hatte einen PC für ihr Unternehmen, und Justin spielte abends gelegentlich daran herum. Bei der Arbeit benutzten sie jedoch Apples.
Er fuhr ihren Rechner hoch, steckte die Diskette in das Laufwerk und stellte fest, dass sie nicht gelesen werden konnte. Das passte. Seine Frustration nach einem langen, harten Arbeitstag wuchs, und er schaltete den Computer wieder aus.
Aber die Neugier nagte an ihm, ein Teil von ihm strebte danach, zur Tür zu gehen und wieder ins Büro zu fahren. Er wollte wissen, was Leonard vor einigen Tagen in ein kettenrauchendes Wrack verwandelt hatte.
Doch er hielt sich zurück. Diese Besessenheit war ungesund, er sollte seine Neugier nicht mit Dingen befriedigen, über die er keine Kontrolle hatte.
Jeder hatte Fragen. Er würde die Besessenheit besiegen. Sich unter die Dusche stellen, die Last des Tages in den Ausguss spülen, zu Abend essen, sich mit April unterhalten und sich ernsthaft bemühen, nicht an die Arbeit zu denken. Einen Familienabend vor dem Fernseher verbringen, mit der Katze spielen; vielleicht fanden sie sogar einen Film, den sie beide sehen wollten.
Und dann konnte er möglicherweise so gegen zehn oder elf zurück ins Büro fahren.
Die Lobby lag wie immer Montagnachts still da, als er dort ankam; sie war gut beleuchtet hinter der Glasfassade zu sehen, und nichts bewegte sich, es war wie ein Aquarium des Kommerzes, das sich ausruhte. Er rüttelte an der verschlossenen Tür, bis Angel erschien und sie mit einem Schlüssel des großen Bundes, der an seinem Gürtel befestigt war, öffnete.
»Ihr Werbeleute«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Scheiße, Mann, wenn Sie so spät noch hierherkommen, dann sollten Sie sich lieber einen anderen Job suchen, denn dieser ist es einfach nicht wert.«
Justin verlangsamte seine Schritte auf dem Weg zum Fahrstuhl, damit Angel problemlos mithalten konnte. Der Mann hatte nun mal kürzere Beine, und außerdem hatte er gehört, er habe vor einigen Jahren Herzprobleme gehabt.
»Und wie spät Sie erst noch hier sind.« Justin grinste.
Angel feixte zurück. »Und wie lange ich dann am nächsten Tag ausschlafen kann.« Die Glocke ertönte, und die Fahrstuhltüren öffneten sich. »Aber Sie können Todd Whitley ebenfalls mein Bedauern ausrichten; der ist auch am Arbeiten.«
Justin blieb im Durchgang stehen und schob die Tür zurück in die Wand, die ihm gegen die Hand drückte. »Todd ist hier?«
Angel nickte. »Ja, Todd. Dieser komische Kerl, der immer so aussieht, als würde ihm ein Furz verquer sitzen.« Angel ging ein wenig in die Knie und schnitt eine Grimasse, während er seinen Hintern mit offensichtlichem Unbehagen einige Male vor und zurück bewegte. Dann streckte er sich. »Ist er das nicht?«
Justin sagte, dass er das sei, und lachte über die impressionistische Darstellung, bis er im richtigen Stockwerk ankam. Dort schloss er die Glastüren des Büros auf. Als er den Gang halb hinuntergegangen war, fiel ihm auf, dass die
Weitere Kostenlose Bücher