Totenstadt
Richtung Osten. Er kam am Rathaus und der Bezirksverwaltung vorbei und wunderte sich, wie schnell man von den bedeutenden Hallen zu den verfallenen Straßen gelangte. Er hatte den letzten Pfannkuchen verdrückt und wischte sich gerade den Puderzucker von den Händen, als er die Canal überquerte und ins French Quarter kam. Wenn er verschwinden wollte, dann war dies der richtige Ort.
Das war hier schon so vielen anderen Leuten gelungen.
Seine Tage und Nächte vergingen wie im Flug; er hätte es nie für möglich gehalten, dass er einmal so enden würde. Dies war eine völlig neue Art des Lernens; das Quarter glich einem riesigen Klassenzimmer unter freiem Himmel, das eine ausgeklügelte Dekadenz auszeichnete. Hier war jeder hinter etwas her: die Versammlungsteilnehmer und Touristen wollten hier die beste Zeit ihres Lebens erleben, und die Prostituierten hatten vor, dabei so viel Profit wie möglich herauszuschlagen; dann gab es da noch die Freaks jeglicher Couleur, die Obdachlosen und jene, die erst nach Einbruch der Dunkelheit hervorkamen, Seemänner, die im Hafen eingelaufen waren, Musiker kurz vor dem Durchbruch und Straßenkünstler, die nie ein Ende zu finden schienen, sowie die Polizei, die regelmäßig Kontrollgänge durchführte, als sei sie die letzte Stimme der Vernunft, die verhindert, dass alles außer Kontrolle gerät, wobei es doch die meiste Zeit so aussah, als sei sie ebenfalls infiziert worden und habe das nur noch nicht erkannt.
Die erste Nacht schlief er in einem Hauseingang, wo ihn die Mülleimer vor neugierigen Blicken schützten. Am nächsten Morgen verschwand Napolean dort früh genug, bevor ihn ein selbstgefälliger Geschäftsmann vertreiben konnte, und suchte sich einen Secondhandladen, in dem er seine graue Hose nebst Jacke eintauschte, damit er nicht länger wie ein fortgelaufener Chauffeur aussah. In diesem Aufzug konnte ihn doch jeder erkennen, der die Straße entlangging und auf der falschen Seite des Gesetzes stand. Er nahm sich dafür eine dünne, ausgeblichene Jeans und ein blaues Loyola-Sweatshirt, das er über sein weißes Anzughemd zog, und er fand, dass er so wie ein Collegestudent aussah. Die schwarzen Schuhe mussten ebenfalls weg; in seiner ersten Nacht als Flüchtling hatte er sich bereits eine oder zwei Blasen gelaufen. Er nahm sich dafür ein Paar No-Name-Laufschuhe.
An jedem der darauffolgenden Tage kaufte er die Zeitung, um zu erfahren, was über den ermordeten Mann drinstand. Sie hielten Tyson Larkin für das Opfer eines Raubüberfalls, da seine Brieftasche und sein Aktenkoffer fehlten. Nein, nein, das war völlig falsch, diese beiden hatten definitiv keinen Raub im Sinn gehabt. Das war doch alles Scheiße.
Erst nachdem er die eigentliche Geschichte zum dritten Mal gelesen hatte, wurde Napolean klar, dass er erleichtert aufatmen konnte, zumindest, was eine Sache betraf. Etwas, an das er zuvor gar nicht gedacht hatte. Er wurde überhaupt nicht erwähnt, weder mit seinem Namen noch sein Beruf. Dort stand nichts davon, dass man ihn als Zeugen oder als Verdächtigen suchte …
Oder fürchtete, er könnte ebenfalls tot sein und dass man seine Leiche und die Limousine nur noch finden müsse.
Das war alles viel zu verwirrend und würde ihn nur in eine Sackgasse führen, wenn er dies zu lange fortsetzte. Selbst wenn er auf der Straße schlief, würde ihm nach wenigen Tagen das Geld ausgehen, und was hatte er bisher schon erreicht: Eine Secondhandgarderobe erworben, in der er langsam verhungern konnte?
Napolean wusste, dass er nie in der Lage sein würde, andere Leute auf der Straße um Geld anzubetteln. Er hatte sich sogar von einigen Dollar getrennt und sie Menschen gegeben, die sie dringender brauchten als er, aber das konnte nicht lange so weitergehen. Die Verzweifelten und die Bettelarmen trennte nichts weiter als ein schmaler Grat.
Wollte er verschwinden? Das war ihm ziemlich gut gelungen. Aber nun gab es keinen Weg zurück und auch nichts, was ihm ein Ziel bieten konnte. Dieser Weg führte nur immer wieder an dieselbe Stelle zurück.
Der absolute Tiefpunkt war sicher nicht mehr sehr weit entfernt.
Und Freitagnacht war es soweit.
Der Moment begann mit einem comichaften Spektakel. Napolean fühlte sich im Pulk dieser Nacht der Wochenenddekadenz sicher. Er befand sich in Bienville in einem Block, der das Geschäftszentrum von den zunichtegemachten Hoffnungen trennte. Augenblicke zuvor hatte er den Rest seines dreißig Zentimeter langen Hotdogs verschlungen, den
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