Totenstätte
mir aufgefallen, dass es auf irgendetwas anschlägt. Ich habe es in die Kühlung mitgenommen, weil ich dachte, dass sich vielleicht noch Spuren von der verschwundenen Leiche dort befinden. Plötzlich schlug es wie wild aus.« Er machte eine Pause, als könnte er immer noch nicht glauben, was er anschließend sagte. »Von Mrs. Jamals Körper geht Strahlung aus. Was auch immer die ursprüngliche Quelle sein mag, sie bringt das Dosimeter auf fast fünfzig Millisievert in der Stunde.«
Jenny fühlte sich, als hätte der Boden plötzlich unter ihr gebebt. Strahlung?
» Ich verstehe nichts von den Messgrößen«, sagte sie. »Was bedeutet das?«
»Lassen Sie es mich so sagen«, erklärte Andy Kerr. »Hintergrundstrahlung hat einen Wert von zwei Millisievert im Jahr. Fünfhundert Millisievert in einer einzigen Dosis wird für gewöhnlich als ziemlich gesundheitsschädlich betrachtet. Wir reden hier also nicht über eine sofort tödliche Dosis, aber über eine gefährliche Menge.«
»Woher könnte die stammen?«
»Keine Ahnung. Eine Kollegin aus der Radiologie ist schon auf dem Weg zu mir, vielleicht kann sie etwas dazu sagen. Ich dachte, Sie würden möglicherweise dabei sein wollen.«
»Haben Sie schon mit der Polizei gesprochen?«
»Sollten wir nicht erst die Fakten kennen?«
»Ich bin sofort bei Ihnen.«
Jenny versprach, nur ein, zwei Stunden fort zu sein, aber Ross sagte, dass er ihre Zeitangaben mit drei zu multiplizieren gelernt habe. Den Ausflug könnten sie vergessen. Sie solle ihn lieber mitnehmen und in Bristol rauslassen, dann würde er sich dort mit Freunden treffen.
In der Nähe des Hafens stieg er aus. Sie sah ihn in Richtung der Coffeeshops und Bars davonschlendern, in denen er sich mit seinen Kumpels wohl rumtrieb. FünfundsiebzigWochenenden noch, dann würde er fort sein. Wie viele davon würden sie noch miteinander verbringen? Eine Handvoll vielleicht, wenn sie Glück hatte.
Auf der fünfzehnminütigen Fahrt ins Severn Vale District Hospital versuchte sie zwei Mal, McAvoy auf seinem Handy zu erreichen. Jedes Mal meldete sich nur die Mailbox, und jedes Mal brachte sie kein Wort heraus, wenn sie eine Nachricht hinterlassen sollte. Sie konnte nicht länger leugnen, dass sie sich auf zutiefst verstörende Weise zu ihm hingezogen fühlte. Aber nicht die Schüchternheit verschlug ihr die Sprache. Eher das vage Gefühl, dass das, was sie erwartete, schon ohne seine Anwesenheit kompliziert genug sein würde. Und wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie ihm gegenüber immer noch Misstrauen hegte. Er hatte ja selbst zugegeben, dass er mir irgendetwas in seinem Leben noch nicht im Reinen war, und diesem Etwas traute sie nicht über den Weg.
Vor der Leichenhalle wartete eine angespannte weibliche Person in Anorak und Handschuhen. Es war Alison. Ihre Missbilligung, die sie leidend ertrug, konnte Jenny zwanzig Meter gegen den Wind spüren.
»Guten Morgen, Alison.«
»Ganz allein, Mrs. Cooper?«, gab sie scharf zurück.
»Ja.«
»Ich hätte eigentlich erwartet, Sie mit McAvoy hier aufkreuzen zu sehen – wo Sie doch so freundschaftlichen Umgang mit ihm pflegen.«
»Ich weiß, dass Sie Probleme mit ihm hatten, aber er hat mir vielleicht zu einem großen Durchbruch verholfen. Ich habe den Mann aufgetrieben, der den Toyota gefahren und Madog einen Besuch abgestattet hat. Haben Sie seine Aussage schon aufgenommen?«
»Ja«, sagte Alison knapp. »Sei er nun hilfreich oder nicht, ich fühle mich verpflichtet, Ihnen zu sagen, dass McAvoy seinen Charme spielen lässt, um sich bei Ihnen einzuschmeicheln. Er führt nichts Gutes im Schilde, ich weiß es.«
Jenny hätte erwidern können, dass Alison selbst wohl kaum objektiv war, wenn es beispielsweise um ihren attraktiven Exchef und Taufpaten, Kriminalinspektor Dave Pironi, ging, aber ihre menschlicheren Instinkte geboten ihr Einhalt. Das war eben die Art und Weise ihrer Assistentin, Besorgnis zum Ausdruck zu bringen, und Jenny wusste das zu schätzen. Sie würde zurzeit nicht gerne ohne sie zurechtkommen müssen.
»Ich mache mir keine Illusionen«, sagte Jenny. »Das nächste Mal werde ich ihn sowieso erst wieder vor Gericht sehen, das verspreche ich Ihnen.« Sie drückte auf den Klingelknopf.
Andy Kerr kam ihnen auf dem Flur entgegen. Er trug eine Strahlenschutzschürze, eine Chirurgenmaske und eine Haube.
»Weiter darf ich Sie nicht hereinlassen«, sagte er und hielt die Hände hoch. »Wir haben bedenkliche Mengen gefunden. Sonia versucht gerade
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