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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. R. Hall
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Tathum. Ich bitte Sie nur, mir zu sagen, was Sie in der fraglichen Nacht getan haben, am 28. Juni 2002.«
    »Wissen Sie was?« Er trat näher. Jenny wich zurück, bis ihr Rücken gegen das Tor stieß.
    »Mr. Tathum …«
    Wo war McAvoy jetzt, da sie ihn tatsächlich einmal brauchte?
    Tathum funkelte sie an und schien eine Beschimpfung herunterzuschlucken. Sie zuckte zusammen, als unvermittelt sein Kopf auf sie zuschnellte. Er berührte sie nicht, doch ihre Nerven lagen blank. Als er zum Haus zurückkehrte, tastete sie nach dem Riegel am Tor, ging schnell hindurch und ließ sich ins Auto fallen.
    Als sie wieder zu Atem kam, sagte McAvoy: »Das war schon besser.«
    Es war McAvoys Idee, am Pub anzuhalten. Wenn Jenny nicht das verzweifelte Bedürfnis gehabt hätte, eine Tablette zu nehmen, hätte sie sich nicht so leicht überreden lassen. Sie zog sich in die zugige Damentoilette zurück und dankte Gott für die Möglichkeit, sich selbst helfen zu können. Die Dosierung hatte sie mittlerweile im Griff: gerade genug, um ihre Nerven zu beruhigen, ohne benommen zu werden. Sie hatte McAvoy um ein Tonic Water gebeten und schon fast das gesamte Glas getrunken, als ihr auffiel, dass das wohlige Gefühl, das ihren Körper durchströmte, nicht nur mit dem Holzfeuer in der Kaminecke oder der Erleichterung über die überstandene Begegnung mit Tathum zu tun hatte. Das Getränk enthielt Wodka. Sechs Monate Nüchternheit waren zum Teufel. Sie hätte es ihm sagen sollen, aber ein Teil von ihr dachte: Was soll’s? Ich habe mich so danach gesehnt, mich wieder gut zu fühlen. Es ist schließlich nur ein einziger Drink . Also trank sie den Rest langsam in kleinen Schlucken und redete sich ein, dass es schon nicht so schlimm sein würde. Wie McAvoy richtig gesagt hatte, wollte sie nicht verängstigt durchs Leben gehen. Ein Drink am Abend gehörte dazu, wenn sie lernen wollte, sich wieder selbst unter Kontrolle zu haben.
    Er war witzig und mitreißend, einfühlsam und geistreich. Seine Abenteuer aus dem Gerichtssaal waren zum Brüllenkomisch, und seine Schilderungen der tragischen Charaktere, die ihm im Gefängnis begegnet waren, rührten sie zu Tränen. Je mehr er trank, desto herzlicher und poetischer wurde er. Plötzlich ahnte sie die komplizierten Schichten seines widersprüchlichen Charakters und verstand seine moralischen Überzeugungen: Er akzeptierte alle Menschen gleichermaßen, egal ob gut oder schlecht, weil »wir letztlich alle Kreaturen Gottes sind«. In ihrem aufgeputschten Zustand fand Jenny diese Mischung aus Demut und Kreativität, aus bewusster Unabhängigkeit und überzeugter Unterwerfung außerordentlich betörend. Als Anwalt, erklärte er, habe es für ihn immer nur eine Philosophie gegeben: »Richte nicht, damit du nicht gerichtet wirst.« Das hieß nicht – wie die meisten Leute dachten –, dass es Sünde sei, über andere zu urteilen, sondern dass alle, die heute richteten, eines Tages auch gerichtet werden würden, und zwar nach wesentlich strengeren Regeln als die, die sich die Menschen ausdachten.
    »Und darin finde ich ein winziges bisschen Trost«, sagte er. Die Finger, die sein Glas umfassten, waren nur einen Hauch von ihren entfernt. »In meinem Leben habe ich ein paar wirklich verruchte Dinge getan, zusammen mit ein paar wirklich schlechten Menschen dieser gefallenen Welt, aber keinen Moment zweifelte ich daran, dass ich irgendwann genauso hart beurteilt werden würde wie mein Nächster.«
    »Denken Sie, dass Sie später durch das richtige Tor treten werden? In den Himmel?«, fragte Jenny lächelnd.
    »Mir gefällt jedenfalls der Gedanke, dass ich es zum Quietschen bringe … Wer weiß.« Er nippte an seinem Whisky und richtete seinen Blick nach innen.
    Jenny betrachtete ihn und fragte sich, von was für Sünden er sich mit seinem Kreuzzug reinzuwaschen gedachte. Fast hätte sie ihn gefragt, aber irgendetwas hielt sie davon ab. Sie wollte es nicht wissen, wollte nicht zu einem Urteilgezwungen werden. Es war genug, dass sie von ihm lernte. Er ließ sie an seinen Weisheiten teilhaben, die sich ihr allerdings noch erschließen mussten.
    Aus den Tiefen seiner Versunkenheit fragte McAvoy: »Glauben Sie wirklich, dass diese Jungen Terroristen waren?«
    »Tut das etwas zur Sache?«, fragte Jenny.
    »Was im Dunkeln geschieht, muss immer ans Licht gezerrt werden«, sagte McAvoy. Er kippte den Rest seines Whiskys runter. »Wir sollten gehen.«

17
    M um … Ist alles in Ordnung?«
    Jenny erwachte aus einem

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