Totenstätte
Sessel und schwenkte das Gerät darüber hinweg.
»Hundertzehn.« Sie lief zur Tür. »Das reicht. Wir gehen.«
Widerwillig ließ Sonia sich dazu überreden, vor ihrem Anruf noch die restlichen Treppenabsätze des Gebäudes zu kontrollieren, maß aber dabei nur einen unwesentlich höheren Wert als die gewöhnliche Hintergrundstrahlung. Somit war bewiesen, dass die Spur direkt von der Haustür zu Mrs. Jamals Wohnung führte. Die Tatsache, dass der Sesselbezug die höchste Belastung aufwies, deutete darauf hin, dass jemand oder etwas Kontaminiertes damit in Berührung gekommen war. Es handelte sich nur um wenige Teilchen – um feinen Staub, wie Sonia es nannte –, aber für Jenny war damit der klare Beweis erbracht, dass Mrs. Jamal in ihren letzten Stunden Besuch gehabt hatte.
Sonia weigerte sich, den Aufzug zu nehmen, und eilte voraus die Treppe hinunter, um die Gesundheitsbehörde zu verständigen. Innerhalb einer Stunde würde das Gebäude evakuiert und versiegelt sein. Ein Team in postapokalyptischen weißen Overalls würde jeden einzelnen radioaktiven Krümel aufspüren und entfernen. Ein seltsameres Schauspiel würde das Viertel nie wieder zu sehen bekommen.
Als sie die letzten Stufen hinunterging, hörte Jenny Stimmen im Hausflur. Sie bog um die Ecke und sah Alison vor der Hausmeisterwohnung stehen und mit Mrs. Aldis reden. Sonia hatte das Haus bereits verlassen, hielt ein Handy ans Ohr und erklärte den ungläubigen Gesundheitsbehörden gestenreich, was vorgefallen war.
Auf ihren Stock gestützt nickte Mrs. Aldis mürrisch zumFahrstuhl hinüber. »Großer Kerl, schlank«, hörte Jenny sie sagen.
»Hautfarbe?«
»Weiß. So um die fünfzig. Baseballkappe. Hat mich fast umgerannt. Keine Entschuldigung oder so.«
»Haben Sie der Polizei davon erzählt?«, fragte Alison.
»Ich war nicht da, als die hier waren. War auf dem Weg ins Krankenhaus. Mein Knie.«
»Um welche Uhrzeit?«
»Muss so um eins gewesen sein. Vielleicht ein paar Minuten später.« Mrs. Aldis erblickte Jenny. »Haben Sie oben abgeschlossen, Schätzchen? Heute schleppt sich mein Mann, der Faulpelz, da bestimmt nicht mehr hoch. Wenn Fußball läuft, bräuchte man eine Bombe, um ihn vom Sofa hochzukriegen.«
»Da könnten Sie heute Glück haben«, sagte Jenny.
Sie saßen in Alisons Wagen. Ein paar friedliche Minuten, bevor die Luft vom Heulen der Sirenen zerrissen werden würde. Jenny widerstand jeder Versuchung, die Entscheidung ihrer Assistentin, sich von ihrem Freund und Glaubensgenossen Inspektor Pironi abzuwenden, zu kommentieren. Sie war einfach nur erleichtert, dass sie es getan hatte. Auch wenn sie es nur ungern zugab, spürte sie eine fast kindliche Dankbarkeit. Was sagte das über sie selbst aus? Sie hörte noch McAvoys Stimme: Irgendjemand hat sämtliches Vertrauen aus Ihnen rausgeprügelt .
»Ich werde die Aussage später aufnehmen«, sagte Alison ruhig. »Der Mann, den sie aus dem Aufzug hat kommen sehen, könnte derselbe gewesen sein, dem Dani James damals im Studentenheim über den Weg gelaufen ist.«
»Ein Weißer … Keine Ahnung, warum ich erwartet hatte, dass sie sagt, er sei Indopakistaner gewesen.«
»Wir wissen nicht, ob er etwas mit Mrs. Jamal zu tun hatte. Es könnte auch bloßer Zufall gewesen sein«, meinte Alison wenig überzeugt.
Nach einem Moment des Schweigens sagte Jenny: »Anna Rose Crosby hat im Atomkraftwerk Maybury gearbeitet. Unsere verschwundene Jane Doe hatte einen Tumor an der Schilddrüse …«
»Sie sollten nicht anfangen zu fantasieren, Mrs. Cooper. Beginnen Sie lieber mit dem, was wir wissen.«
Dann kam der erste Streifenwagen. Mit quietschenden Reifen und heulender Sirene hielt er vor dem Haus. Sonia Cane eilte den beiden Polizisten entgegen.
»So einen Fall wird sie vermutlich nie wieder bekommen«, sagte Alison. »Überlassen wir ihr das Rampenlicht, oder?«
»Warum nicht«, sagte Jenny. »Und wo wir schon einmal dabei sind: Ich habe das Gefühl, dass es voreilig wäre, Montag mit der Anhörung fortzufahren, oder?«
»Was immer Sie meinen, Mrs. Cooper.«
Der Tag hatte eine traumähnliche Qualität bekommen. Die Stimmungen wechselten so rasch wie die Wolken am Himmel. Der Akku ihres Handys reichte gerade noch für einen Anruf bei Ross, der ihr in den wenigen verbleibenden Gesprächssekunden mitteilte, dass er übers Wochenende bei seinem Vater bleiben würde. Ob sie wohl am Montag auf dem Weg zur Arbeit seine Sachen dort vorbeibringen könne?
Ausgelaugt und entmutigt fuhr Jenny heim.
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