Totenstätte
Kühltransporter? Soll ich sie mir ansehen? Das ist sicher auch so ein Fall, den die Polizei für sich beanspruchen wird.«
»Es wäre gut, wenn Sie einen eigenen Bericht anfertigen«, sagte Jenny und konnte sich einen Seitenhieb nicht verkneifen. »Wir kennen ja unsere Freunde in Blau. Die können etwas sehen, aber etwas ganz anderes schreiben.«
»Ich habe Ihnen nur erzählt, was ich damals gehört habe, Mrs. Cooper«, gab Alison zurück. »Zu der Zeit gingen wirauch bei Muslimen bei einem Verdacht noch immer zuerst von deren Unschuld aus.«
Jenny biss sich auf die Zunge. Alisons Reaktion machte deutlich, dass Mrs. Jamal verwirrende Empfindungen in ihr ausgelöst hatte. Obwohl es sechs Monate her war, wusste Jenny, dass Alison noch immer dem Mann nachtrauerte, den sie geliebt hatte: dem verstorbenen Harry Marshall, Jennys Vorgänger im Amt des Coroners. Die beiden hatten sich nahegestanden, und die unschönen Umstände seines plötzlichen Todes hatten eine Menge ungelöster Gefühlskonflikte hinterlassen, die Alison nun mit einer Dosis Strenggläubigkeit verarbeiten wollte. Wenn sie unsicher war, klammerte sie sich an Institutionen – an die Polizei oder die Kirche – und wehrte sich gegen alles, was diese bedrohte. Das war zwar irrational, aber wer war Jenny, sich diesbezüglich ein Urteil anzumaßen? Ohne ihre Medikamente war sie ebenfalls ein Opfer irrrationaler Ängste.
»Ihr Sohn wurde für tot erklärt«, sagte Jenny. »Sie hat das Recht auf eine gerichtliche Untersuchung, wie begrenzt die Möglichkeiten auch sein mögen. Ich hege größte Zweifel, dass etwas dabei herauskommt.«
Alisons Feindseligkeit hing noch in der Luft, nachdem sie das Büro verlassen hatte. Jenny fühlte sich fast schuldig, als sie Mrs. Jamals Papiere ordnete. Seit dem ersten Fall, in dem sie mit Alison zusammengearbeitet hatte – der vierzehnjährige Danny Wills war erhängt in einer Zelle einer privaten Haftanstalt aufgefunden worden –, hatte sie sich nicht mehr so gefühlt. Vielleicht besaß Alison als Expolizistin ja ein sensibleres Gespür für Ärger.
Obwohl Mrs. Jamals Box voller Dokumente war, warfen auch sie kein neues Licht auf den Fall. Es gab Listen von Studenten, die damals in den Wohnheimen gewohnt hatten,dann Aussagen von Mitgliedern beider Familien, Aussagen von den Polizisten, die den Campus durchkämmt hatten, und Kopien der sinnlosen Korrespondenz mit Anwälten und Politikern. Es folgten eine Kopie der Aussage, in der Robert Donovan die beiden jungen Männer im Zug beschrieben hatte, sowie Kopien der Aussagen der Studentinnen Dani James und Sarah Levin über den geheimnisvollen Eindringling einerseits und über Nazims Bemerkung über nach Afghanistan gehende muslimische Brüder andererseits. Auch eine schlechte Kopie von Nazims Pass fand sich in der Box, außerdem die Bestätigung des Einwohnermeldeamts, dass Rafi Hassan nie einen Pass besessen oder beantragt hatte. Dem folgte ein emotionsloser Brief einer Verbindungsbeamtin namens Sarah Cole, die in einem überheblichen Tonfall erklärte, dass die Polizei die Ermittlungen einstelle, bis weitere Indizien auftauchen würden. Das letzte Dokument war ein Suchplakat, das auf einem gewöhnlichen Computer aus verschiedenen Porträts der jungen Männer zusammengebastelt worden war. Jenny war überrascht, wie gut die beiden aussahen mit ihren wachen Augen und den feinen Gesichtszügen. Nachdem sie die Fotos für einen langen Moment angeschaut hatte, wurde sie von einer fast unerträglichen Traurigkeit überwältigt. Die beiden waren nicht einmal tot, etwas viel Schlimmeres war mit ihnen passiert: Sie waren einfach verschwunden.
Sie schob alles beiseite und kämpfte gegen ihre Gedanken an, die bereits Verbindungen zwischen dem Fall und ihren Diskussionen mit Dr. Allen herstellten. Ständig verschwanden Leute spurlos. Es war nur ein Zufall, dass dieser Fall ausgerechnet jetzt auf ihrem Schreibtisch gelandet war. Im Prinzip hätte er auch vom Coroner von Bristol bearbeitet werden können, da Nazim zuletzt in dessen Zuständigkeitsbereich gesehen worden war. Jenny müsste ihn eigentlichgar nicht übernehmen, und doch wusste sie, dass sie keine Wahl hatte.
Vorne, im leeren Empfangsbereich, klingelte das Telefon, dann wurde der Anruf automatisch auf ihren Apparat umgeleitet. Sie meldete sich mit ihrer geschäftsmäßigsten Stimme. »Büro des Coroners des Severn Vale District. Jenny Cooper am Apparat.«
»Guten Morgen. Andrew Kerr. Der neue Pathologe vom Vale.« Er
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