Totenstätte
im Büro.« Er drehte sich um, eilte den Flur entlang und zog lautstark die Tür hinter sich zu.
»Sind Sie sicher, dass der Mann für den Job alt genug ist?«, fragte McAvoy. »Der ist doch kaum den kurzen Hosen entwachsen.«
»Wollen wir es hinter uns bringen?«
Sie ging zu dem Kühlraum voran. Während sie an einem halben Dutzend aufgebahrter Leichen vorbeikam, spürte sie McAvoys Blick auf sich. Er gehörte zu den Männern, die nicht einmal so taten, als würden sie nicht hinschauen.
Sie zog einen Latexhandschuh aus einem Spender, der an die Wand geschraubt war. »Haben Sie ein Foto von der Tochter Ihres Klienten? Manchmal ist es schwierig …«
»Nicht nötig. Ich kenne sie seit ihrer Geburt.«
»Wie heißt sie?«
»Abigail.«
Sie öffnete die Tür des Kühlfachs – ein schweres Stück Metall in einer Größe von zweieinhalb Metern mal eins zwanzig – und zog die Schublade heraus. Als sie nach der Plastikhülle griff, um sie zurückzuziehen, bemerkte sie, dass McAvoy sich instinktiv bekreuzigte. Als sie die Leiche anblickten, fuhren sie beide zusammen: Das Gesicht starrte sie mit leeren Augenhöhlen an.
»Gütiger Gott«, flüsterte McAvoy.
Jenny wich zurück und schaute zur Seite. »Entschuldigung. Sie hatte eigentlich Glasaugen. Irgendjemand muss sie herausgenommen haben.«
Er beugte sich über die Leiche. Aus dem Augenwinkel sah Jenny, dass er jedes Detail des Gesichts genau betrachtete, dann zog er die Plastikhülle ein weiteres Stück zurück, um den Oberkörper frei zu legen.
»Das ist nicht Abigail«, sagte er schließlich und richtete sich wieder auf. »Sie hat ein Grübchen am Kinn und ein kleines Muttermal seitlich am Hals. Trotzdem vielen Dank.«
Jenny nickte und zögerte, die Leiche wieder anzuschauen und deren Gesicht zuzudecken.
»Lassen Sie mich das machen«, sagte McAvoy und griffbereits nach der Plastikhülle, bevor sie auch nur die Hand ausstrecken konnte. »Der Körper ist nichts als Staub, wenn die Seele entwichen ist, das muss man sich einfach klarmachen.« Er schob die Schublade in die Kühlung zurück. »Die gottlose Mehrheit lebt hingegen mit dem quälenden Gedanken, dass Fleisch und Blut alles sind.« Er schloss die Tür und warf einen Blick auf die Leichen, die an den Flurwänden auf Bahren aufgereiht waren. »Sperren Sie einen Ungläubigen für eine Nacht hier ein, und er wird schnell nach seinem Schöpfer schreien.« Er warf ihr einen herausfordernden Blick zu. »Wir haben uns noch nie gesehen, nicht wahr?«
»Nein.« Sie zog den Handschuh aus und ließ ihn in den Abfalleimer fallen.
»Neu?«
»Kann man so sagen.«
»Genau der richtige Job für eine Frau.« Er betrachtete sie eine Weile und nickte dann, als wäre seine Neugierde gestillt. »Ja, jetzt verstehe ich es.« Sein Lächeln wurde milde, vielleicht ein Hinweis darauf, dass er auch freundlichere Seiten besaß. »Nun gut, verbringen Sie nicht zu viel Zeit mit diesen Genossen. Dann bis bald.« Er drehte sich um, schüttelte mit einer Kopfbewegung sein Haar aus der Stirn und verließ das Anatomiegebäude, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben.
Jenny schaute ihm nach, bis er verschwunden war, und erwartete fast, dass er auf dem Weg hinaus noch irgendetwas mitgehen ließ.
Als Jenny das Büro betrat, saß Dr. Kerr an seinem Computer. Die Chirurgenkluft hatte er gegen ein T-Shirt eingetauscht, das seine Muskeln betonte. Vermutlich war er knapp dreißig, Single und hatte viel Zeit, sich um sein Äußeres zu kümmern.
»Sind wir ihn los?«, fragte er, während er eine E-Mail abschickte.
»Ja. Es ist nicht das Mädchen, nach dem er sucht.«
Dr. Kerr drehte sich auf seinem Stuhl zu ihr hin. Sie bemerkte, dass er die Möbel umgestellt und Regale und Teppich ausgetauscht hatte. Die Fachbücher auf dem Brett hinter ihm sahen neu und unbenutzt aus. Direkt daneben standen einige Zeitschriften, Men’s Health und Muscle and Fitness .
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs. Cooper.«
Er streckte seine Hand aus. Erfolglos versuchte sie, seinem kräftigen Händedruck etwas entgegenzusetzen.
»Ganz meinerseits. Ich hatte allmählich genug von Aushilfen.«
»Dann wird es Sie freuen, dass ich meine Obduktionsberichte selbst schreibe und sie gerne vom Tisch habe, bevor ich abends nach Hause gehe.«
»Wie ich sehe, haben Sie bereits angefangen.«
»Kein Kommentar«, sagte er lächelnd.
An seinem leichten Akzent erkannte Jenny, dass er aus Ulster stammte. Aus irgendeinem Grund beruhigte sie das – solide und
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