Totenstätte
verlässlich.
»Mir war aufgefallen, dass Ihre Jane Doe schon eine Weile hier herumliegt«, sagte Dr. Kerr, »also habe ich sie mir heute Morgen einmal angeschaut.« Er reichte ihr einen dreiseitigen Bericht. »Ich wusste nicht, ob ich zuerst mit der Polizei oder erst mit Ihnen sprechen soll, aber ich habe in der Akte gelesen, dass Sie eine gerichtliche Untersuchung eingeleitet haben.«
»Eingeleitet und gleich wieder vertagt, weil ich zunächst herausfinden muss, wer sie ist.«
»Hat die Polizei kein Interesse?«
»Das wird sie haben, wenn man irgendetwas Belastendesfindet. Aber bis dahin ist sie mehr als froh, wenn sie die Kleinarbeit anderen überlassen kann.«
Er nickte, obwohl ihm die Überraschung ins Gesicht geschrieben stand. Jenny hoffte, dass seine Fähigkeiten als Pathologe besser waren als sein Verständnis jobpolitischer Zusammenhänge.
»Nach der ersten Untersuchung kann ich unmöglich sagen, woran sie gestorben ist. Die meisten inneren Organe fehlen – Möwen, habe ich gelesen.«
»Offenbar.«
»Ein Stück Lungengewebe war noch übrig, gerade genug, dass sich daraus schließen lässt, dass ihre Bronchien aufgebläht waren …«
»Soll heißen?«
»Vielleicht ist sie ertrunken, aber das kann ich nicht beweisen. Was ich auch interessant finde, sind zwei Kerben in den Lendenwirbeln, und zwar an der Seite zum Bauch hin. Die können von Möwen verursacht worden sein, aber ich würde auch Stichwunden nicht ausschließen.«
»Aber genau kann man es nicht festmachen?«
»Leider nicht.« Etwas weniger forsch fuhr er fort. »Noch zwei Dinge. Erstens ihre Zähne. Es gibt keine Karies und keine Füllungen, daher werden uns Zahnarztbefunde nicht weiterhelfen. Zweitens: Ich habe ihren Nacken seziert und nach Hinweisen auf Tod durch Erhängen gesucht. Die habe ich nicht gefunden, dafür aber einen Tumor an der Schilddrüse, frühes Stadium. Er ist schon so groß, dass sie ihn möglicherweise zu spüren begonnen hat. Vielleicht war sie bei einem Arzt und hat über Druck auf die Luftröhre geklagt.«
»Schilddrüsenkrebs? Was könnte den verursacht haben?«
»Was sind schon im Einzelfall die Ursachen von Krebs? Wenn die Leiche nicht eine Ladung radioaktiver Strahlen abbekommen hat, kann man das unmöglich sagen.«
»Strahlen?« Sie dachte an die Crosbys und ihre Tochter, die in dem abgeschalteten Atomkraftwerk gearbeitet hatte. »Es wird eine junge Frau vermisst, die draußen in Severn im AKW Maybury gearbeitet hat. Sie ist adoptiert.«
»Darauf wollte ich hinaus. Diese Art von Tumor kommt vor allem in Osteuropa vor, als Folge von Tschernobyl. Die Wangenknochen der Leiche sehen leicht slawisch aus.«
»Die Familie wird Haare oder Ähnliches für einen DNA-Test zur Verfügung stellen. Wenn das zu nichts führt, werden wir es mit raffinierteren Methoden versuchen – mit geographisch-mineralogischen Analysen oder was auch immer.«
»Aber nicht von meinem Budget.«
»Das werden wir ja sehen«, sagte Jenny und lächelte verhalten. »Wir könnten die Polizei überreden, das Ganze zu bezahlen.«
»Vielleicht kann ich irgendwo ein Dosimeter auftreiben. Es gibt ziemlich exakte radiologische Daten, die man zum Vergleich heranziehen könnte. Wenn sie aus Osteuropa stammt, lässt sich sogar möglicherweise grob der Herkunftsort bestimmen.«
»Jedes Detail wäre hilfreich.« Jenny stand auf. »Je schneller wir ihre Identität feststellen, desto eher wird auch wieder ein Platz in Ihrer Kühlung frei.«
»Können wir die Leiche nicht bei einem Bestattungsunternehmen unterbringen oder …«
»Sie haben einen festen Vertrag, nicht wahr?«, unterbrach ihn Jenny.
»Ja, wieso?«
»Dann können Sie es sich leisten, die Muskeln spielen zu lassen. Wenn Sie nicht von Anfang an Forderungen stellen, wird man Sie ausbluten lassen. Irgendwann werden Sie sich dann das Besteck für Ihre Obduktionen in der Kantine zusammenklauen müssen.«
»Es kommt mir noch ein bisschen zu früh vor, um den Laden aufzumischen.«
Eine fast mütterliche Sorge befiel sie – er war noch keine dreißig und bekam es schon mit den finstersten Geheimnissen eines Krankenhauses zu tun.
»Hören Sie, Andrew … Darf ich Sie so nennen?«
»Sicher.«
»Die geben Ihnen eine Woche, dann werden sich die Ärzte ans Telefon hängen und Sie bedrängen, ihre Fehler zu vertuschen. Die Verwaltung wird Ihnen nahelegen, dass Sie um nichts in der Welt eine Infektion im Krankenhaus als Todesursache angeben dürfen. Lassen Sie sich ein einziges Mal
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