Totenstätte
korrumpieren, dann hängen Sie für immer und ewig mit drin. Fragen Sie Ihren Vorgänger.«
»Okay«, sagte er unsicher. »Ich werd’s mir merken.«
Der Regen hatte aufgehört. Stattdessen glitzerte jetzt rauer Frost auf dem Asphalt, als Jenny über die in einem weiten Bogen gebaute Severn Bridge nach Hause fuhr. Die Lichter der Fabriken von Avonmouth zur Linken und von Maybury zur Rechten spiegelten sich in der glatten Wasseroberfläche in der windstillen Nacht. Als sie am Ende der Brücke Wales erreichte, an Chepstow vorbeikam und in den Wald eintauchte, wartete Jenny darauf, dass die Anspannung des Tages von ihr abfiel. Doch aus irgendeinem Grund war die Erleichterung an diesem Abend nicht so deutlich zu spüren wie sonst. Die Begegnung mit Mrs. Jamal und der nervenaufreibende Fall mit der Jane Doe hatten eine hartnäckige Angst in ihr heraufbeschworen, die ihr die Freude an der Mondsichel verleidete, die hinter skelettartigen Bäumen hervorblitzte.
Sie versuchte sich über ihre Gefühle klar zu werden. Willkürlich , ungerecht , verstörend waren die unangemessenenWorte, die ihr in den Sinn kamen. In den letzten drei Jahren war sie von beunruhigenden Mächten gejagt und zeitweise überwältigt worden, aber den Grund dafür kannte sie jetzt kaum besser als damals, als sich die Symptome erstmals bemerkbar gemacht hatten. Ihre Fortschritte waren bescheiden gewesen. Nur sechs Monate war es her, dass sie sich mit Hilfe von Beruhigungsmitteln und literweise Wein durchs Leben geschleppt hatte. Dr. Allen hatte ihr geholfen, beide Gewohnheiten abzulegen. Jetzt nahm sie Medikamente, hielt sich aber wacker: Sie funktionierte. Und sie hatte bewiesen, dass die Maske, hinter der sie sich versteckte, nicht so fragil war wie befürchtet. Sechs Monate lang hatte sie sich perfekt hinter ihr versteckt. Niemand, der ihre Geschichte nicht kannte, würde je etwas vermuten.
Alle Fenster von ihrem winzigen Cottage Melin Bach –Walisisch für Kleine Mühle – waren erleuchtet. Ross war also zu Hause. In letzter Zeit ließ er sich fast jeden Abend von einem neuen Englischdozenten seines Colleges mitnehmen, der ein Stück weiter das Tal hinauf wohnte. Jenny hatte den Eindruck, dass sie die Fahrt damit zubrachten, Zigaretten zu rauchen und Indiemusik zu hören, die sie sich aus dem Internet herunterluden und dann tauschten. Der Lehrer war keine Spur erwachsener als Ross.
»Muss denn wirklich jedes Licht an sein?«, rief sie die Treppe hinauf. Aus Ross’ Zimmer drang Musik, raue Gitarren und Stimmen, die wie ein Abklatsch der Stones klangen. »Was ist mit Mutter Erde? Der Natur?«
»Die ist schon ruiniert«, rief Ross.
Großartig. Sie hängte ihren Mantel auf. »Ich nehme nicht an, dass du dir Gedanken übers Abendessen gemacht hast, oder?«
»Nein.« Die Musik wurde lauter. Jenny verzog sich ins Wohnzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Sie sammelte die mit Toastkrümeln übersäten Teller und die schmutzigen Tassen und Gläser ein, kickte ein paar Turnschuhe aus dem Weg und trug das Geschirr in die kleine, unrenovierte Küche im hinteren Bereich des Hauses. Ihr Exmann hatte gelacht, als er sie gesehen hatte. Seine eigene Küche hatte achtzigtausend Pfund gekostet und war von einem Team deutscher Installateure geliefert worden, die in einem Winnebago-Wohnmobil vorgefahren waren. Genau das war der Grund, warum sie so an ihrer alten Waliser Anrichte und dem Kohleherd hing. Ihre Nachbarn hatten ihr erzählt, dass Letzterer noch aus den Vierzigern stammte.
Wie immer war nichts zu essen im Haus. Bis auf ein Glas getrocknete Linsen und eine Packung Müsli ohne Zuckerzusatz, das ein fehlgeleiteter Instinkt sie im letzten Sommer hatte kaufen lassen, war alles Ross zum Opfer gefallen. Sie kramte im Küchenschrank und fand eine Dose Kondensmilch und ein Glas vergammelte Currypaste.
Ross polterte herein. Er trug eine Militärjacke. Bei seinen eins achtzig befanden sich Jennys Augen gerade mal auf Kinnhöhe.
»Du solltest online shoppen und alles nach Hause liefern lassen. Vermutlich bist du sowieso die Einzige, die das noch nicht macht«, sagte er und warf eine leere Pepsidose in den Abfalleimer.
»He, Mülltrennung.«
»Klar. Als würde das uns retten.« Er war schon wieder an der Tür. »Ich geh dann mal.«
»Wohin?«
»Zu Karen. Die bekommt bei ihrer Mutter wenigstens jeden Abend etwas zu essen.«
»Nichts hindert dich daran zu …«
»Kochen? Du wirst doch immer gleich panisch, wenn ich die Küche auch nur
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