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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. R. Hall
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Mai 2002 zu ihrem Geburtstag besucht hatte, und sein unerwartetes Auftauchen am Samstag, den 22. Juni, als er blass und fiebrig gewesen war.
    »Würden Sie sagen, dass Nazim, als er im Juni über Nacht bei Ihnen geblieben ist, anders war als im Mai?«
    »Es ging ihm nicht gut …« Sie unterbrach sich, als wäre ihr etwas eingefallen.
    »Mrs. Jamal?«
    »Einen Unterschied gab es tatsächlich.«
    »Ja?«
    »An meinem Geburtstag ist er zwei Mal für sein Nachmittags- und sein Abendgebet ins Gästezimmer gegangen. Er betete fünf Mal am Tag, wie es verlangt wird. Das tun nicht viele.«
    »Und im Juni?«
    »Er ist mittags gekommen und gegen neun ins Bett gegangen. Gebetet hat er nicht. Er sprach über sein Studium und über Tennis. Er hatte schon eine Weile nicht mehr gespielt und wollte eventuell wieder anfangen. Wir haben über die Familie geredet, über seine Cousins … Religion war, glaube ich, kein Thema.«
    »Was trug er damals?«
    »Ganz normale Sachen: Jeans, ein Hemd. Sein Haar und sein Bart waren kürzer als vorher.« Ängstlich schaute sie sich im Saal um, bewusst, dass man ihr aufmerksam zuhörte. Die meisten Muslime im Raum waren westlich gekleidet, einige trugen traditionelle Gewänder, und fast alle hatten einen Bart. »Ich erinnere mich, dass ich froh darüber war. In unserer Familie haben wir nie geglaubt, dass man sich wie ein Wüstenbewohner anziehen muss, um Gott nahe zu sein. Solche Meinungen kamen von außen. Wir waren nicht so.«
    Die jungen Männer im Saal tauschten missbilligende Blicke aus.
    »Hat Nazim angedeutet, dass sich irgendetwas verändert hat?«
    »Nein. Aber so etwas sieht man seinem Kind an. Etwas an ihm war anders. Er brauchte mich und wollte, dass alles wieder so sein sollte wie früher … als er noch ein Junge war.«
    »Haben Sie irgendeine Ahnung, worin die Veränderung bestanden haben könnte, Mrs. Jamal? Und wodurch sie hervorgerufen worden war?«
    Mrs. Jamal schaute zu Boden und schwieg für einen langen Moment. »Ich weiß noch, dass ich dachte: Jetzt ist es vorbei. Ich war erleichtert. Und als ich ihn dann am nächsten Morgen beten hörte, so wie er es als Kind getan hatte, dann wusste ich es.«
    »Womit war es vorbei?«
    »Mit den Ideen, die irgendwelche Leute ihm in den Kopf gesetzt hatten.« Sie nickte zu Anwar Ali hinüber. »Leute wie der da. Radikale.« Das letzte Wort spuckte sie fast aus. »Mein Nazim war nie einer von denen.«
    Anwar Ali fixierte sie. Seine Freunde und Kollegen wurden unruhig.
    »Mrs. Jamal«, sagte Jenny, »hat Ihr Sohn jemals von Rafi Hassan gesprochen?«
    »Nein, nie.«
    »Hat er andere Freunde von der Uni erwähnt?«
    »Nicht namentlich.«
    »Kam Ihnen das nicht irgendwie merkwürdig vor?«
    »Ich habe ihn neun Monate lang kaum gesehen, von Oktober bis Juni. Und die paar Male, die er dann bei mir war, habe ich mich vielleicht ein wenig eigennützig verhalten. Ich wollte ihn für mich haben und nicht über seine Freunde reden.«
    »War es nicht eher so, dass Sie nichts über sie wissen wollten?«
    »Möglich …«
    »Weil Sie wussten, dass Gruppen wie die Hizb ut-Tahrir keine Bedenken hatten, ihre Mitglieder von ihren Familien wegzulocken?«
    »Ja. Davon hatte ich gehört.«
    Jenny notierte sich, dass Mrs. Jamal von Januar bis Juni 2002 mitbekommen hatte, dass sich ihr Sohn radikalisierte. Aber sie hatte den Kopf in den Sand gesteckt. Aus eigener Erfahrung wusste Jenny, wie bereitwillig eine Mutter sich selbst belügen konnte.
    Was die Beweislage betraf, so hatte Mrs. Jamal nicht mehr viel beizutragen, aber Jenny ließ sie trotzdem noch von den Wochen nach Nazims und Rafis Verschwinden erzählen. Sie beschrieb die fruchtlosen Treffen mit Sarah Cole, der Verbindungsbeamtin der Polizei von Bristol und Avon, außerdem die Gespräche mit David Skene und Ashok Singh, den MI5-Mitarbeitern, die sich, bevor die Ermittlungen im Dezember dann faktisch eingestellt wurden, drei Mal mit ihr getroffen hatten. Mrs. Jamal beharrte darauf, dass der letzte offizielle Kontakt zwischen ihr, der Polizei und den Geheimdiensten in dem Brief von Sarah Cole vom 19. Dezember 2002 bestanden hatte. In ihm war folgender unsinnige Satz zu lesen gewesen: »In Ermanglung glaubwürdiger Hinweise auf den Verbleib Ihres Sohnes oder den Mr. Hassans wurde entschieden, dass die Ermittlungen eingestellt werden, bis neue Hinweise auftauchen.« Ein Polizist, an dessen Namen sich Mrs. Jamal nicht erinnern konnte, hatte ihr ein paar Tage zuvor mitgeteilt, dass die Geheimdienste über

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