Totenstätte
Sie sind jetzt allein. Arbeitet für den MI5 und beherrscht nicht einmal die Zeichensetzung, dachte Jenny.
Die Stimmung war spürbar nüchterner, als das Gericht erneut zusammenkam und Anwar Ali in den Zeugenstand trat. Beherrscht und selbstbewusst schien er den jungen Muslimen Respekt einzuflößen. Jenny ließ ihren Blick über die Zuschauertribüne gleiten und konnte Rhys nicht mehr entdecken. Angst befiel sie, und ihr wurde bewusst, dass seineAnwesenheit ihr ein Gefühl der Sicherheit gegeben hatte. Plötzlich hätte sie nur allzu gerne gewusst, was er ihr hatte sagen wollen. Sie musste sich selbst daran erinnern, dass ein Coroner stets allein arbeitete. Er war unabhängig und nur dem Lordkanzler gegenüber verantwortlich. Sie war auf niemanden angewiesen.
Mit ein paar unverfänglichen Fragen klärte sie, dass Mr. Ali zweiunddreißig Jahre alt war und zum Zeitpunkt von Nazims und Rafis Verschwinden schon länger Politikwissenschaften und Soziologie studiert hatte. Kürzlich war er vom Stadtrat von Newport als Verwalter des Flüchtlingszentrums angestellt worden, außerdem hatte er eine halbe Promotionsstelle an der Universität Cardiff. Der Titel seiner Doktorarbeit lautete: »Anglo-muslimische Identität: Integration oder Kohabitation«. Ali erklärte, kein Mitglied der British Society for Islamic Change zu sein, obwohl er verschiedene Artikel für ihre Website verfasst habe. Sich selbst beschrieb er als »politisch engagierten britischen Muslim, dessen Anliegen es ist, das friedliche Zusammenleben zwischen den Gemeinschaften zu fördern«.
»In Ihrer Zeit in Bristol waren Sie regelmäßig in der Al-Rahma-Moschee, nicht wahr?«
»Ja. Ich habe freitags dort gebetet.«
»Die kleine Moschee war zuvor ein Privathaus, oder?«
»Richtig.«
»Was war das Besondere an dieser Moschee? Es gab ja auch noch andere in der Stadt.«
»Sie war fortschrittlich. Mullah Sayeed Faruq hatte sie Mitte der Neunzigerjahre gegründet, um jungen Männern und Frauen, die eine andere Einstellung zu ihrem Platz in der Welt hatten, eine Anlaufstelle zu bieten.«
»Wie würden Sie Sayeed Faruqs Theologie charakterisieren?«
»Als ganz normal.«
»Und seine politische Einstellung?«
»Als kritisch.«
»Könnten Sie das näher erläutern?«
Ali dachte sorgfältig nach, bevor er antwortete. »Faruq hat sich gefragt, in welchem Ausmaß die muslimische Identität durch westliche Einflüsse verwässert wird. Viele von uns wollten damals über eine Zukunft diskutieren, die nicht von Materialismus und Gewalt geprägt ist. Wir wollten das Wesen der Religion wiederentdecken.«
»Die Polizei war offensichtlich der Meinung, dass Faruq radikale und extremistische Ansichten vertrat. Stimmte das?«
»Wenn Sie damit meinen, dass er für Gewalt eingetreten ist, dann nicht. Es ging ihm um die Kraft des Arguments, um die Einsicht, dass der islamische Weg für das Seelenheil der Menschen besser ist.«
»War Sayeed Faruq Mitglied der Hizb ut-Tahrir?«
»Ich glaube schon«, sagte Ali. »Ich war es nicht, genauso wenig wie Nazim und Rafi, soweit ich weiß. Sie sollten aber wissen, Ma’am, dass die Hizb nicht propagiert, den Islam mit gewaltsamen Mitteln zu verbreiten. Ihr Ziel ist es, zu argumentieren und zu überzeugen. Die Organisation hat erhebliches Misstrauen auf sich gezogen, aber in der großen Mehrheit der freien Länder ist sie nicht verboten.« Er wandte sich an die Jury. »Der Name bedeutet übersetzt übrigens ›Partei der Befreiung‹.«
»Danke, Mr. Ali. Auch ich habe mich ein wenig kundig gemacht. Meinen Recherchen zufolge gehörte es zu den Überzeugungsmethoden der Hizb, junge Leute zu Treffen einzuladen. Zu sogenannten halaqah , wie auch Sie sie in Ihrer Wohnung in der Marlowes Road abgehalten haben.«
»Bei mir haben Diskussionsrunden stattgefunden, aberich war nie Mitglied der Hizb oder irgendeiner anderen Organisation.«
Ali ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und hatte auf alle Fragen eine unverfängliche, einstudierte Antwort parat. Er rückte auch nicht von seiner Position ab, dass sowohl in der Moschee als auch bei seinen eigenen Diskussionsrunden ausschließlich friedliche Mittel zur Verbreitung der islamischen Botschaft diskutiert worden seien. Sayeed Faruq und er hatten darauf hingearbeitet, ein internationales Kalifat zu errichten. Gewalt und Terrorismus dagegen waren ihrer Meinung nach, außer zum Zwecke der Selbstverteidigung, ein Sakrileg.
So interessant der Dialog auch war, Jenny hatte bemerkt, dass ein
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