Totenstätte
sauren Apfel und wählte.
Gillian Golder meldete sich beim zweiten Klingeln. »Jenny. Vielen herzlichen Dank, dass Sie sich melden.« Sie klang überschwänglich.
»Gerne. Was kann ich für Sie tun?«
»Sehen Sie, natürlich möchten wir Ihnen nicht ins Handwerk pfuschen, aber Alun hat mir erzählt, dass Sie dem Anwalt der BRISIC erlaubt haben, Ihre Zeugen zu befragen.«
»Es liegt in meinem Ermessen, das zu tun. Meiner Meinung nach haben seine Klienten ein begründetes Interesse an dem Fall.«
»Natürlich. Es scheint mir aber nur fair, Sie darauf hinzuweisen, dass die Anliegen der BRISIC alles andere als harmlos sind. Es handelt sich bei ihr um eine politisch-islamistische Organisation, die gefährliche Verschwörungstheorien verbreitet. Schauen Sie sich mal die Website an: Dem britischen Staat werden alle möglichen Dinge vorgeworfen, von Propaganda bis hin zum Mord an den eigenen Bürgern. Ich kann also Ihre Meinung nicht teilen, dass das Interesse dieser Organisation begründet ist.«
Jenny hatte nicht die Absicht, sich einschüchtern zu lassen. »Ich bin mir sicher, dass ich alles unter Kontrolle habe.«
»Wie ich höre, haben Sie die Anhörung heute schon vertagt. Einer unserer Mitarbeiter sollte morgen aussagen …«
»Daran ist nichts Verwerfliches.«
»Für unsere Freunde schon, wenn man ihre Interviews in den Nachrichten hört. Die denken, Sie würden eine große Vertuschungsaktion planen.«
»Und inwiefern, meinen Sie, sollte diese Information meine Entscheidungen beeinflussen?«
»Ich möchte gar nichts beeinflussen«, sagte Gillian Golder. »Ich möchte Sie nur warnen. Gefährlicher Unsinn kann manchmal sehr überzeugend wirken, selbst für einen absolut verlässlichen und rationalen Verstand.« Den letzten Satz hatte sie langsam und betont deutlich gesprochen. Die Botschaft war angekommen: Stell uns bloß, und wir machen dich fertig .
11
A m späten Abend frischte der Wind auf, ein kalter Nordwind, der neue Ritzen und Spalten fand, um in das Cottage zu dringen. Die heftigen Böen ließen die Hintertür in ihren Scharnieren klappern und Jenny jedes Mal hochfahren. Sie sehnte sich nach einem Drink, um die kindische Angst, die das knarrende Haus ihr einjagte, zu bekämpfen. Ross würde bei einem Freund in Bristol übernachten, und es war ihr zu peinlich, Steve anzurufen und ihm zu erzählen, dass sie sich in ihrem eigenen Haus fürchtete. Sie schloss sich in ihrem Arbeitszimmer ein und wurde immer nervöser. Am späten Nachmittag hatte die Polizei weitere Fotos aus dem Inneren des verunglückten Lieferwagens geschickt, die sie nicht mehr losließen: zwei Männer Anfang zwanzig mit aufgeplatzter Stirn. Der eine war um den Vordersitz gewickelt, der andere kopfüber in den Fußbereich gepresst. Am Armaturenbrett klebte ein halb gegessener Hamburger. Die beiden waren Baumchirurgen gewesen, hatten auf morschen Ästen herumgeturnt und mit Kettensägen herumhantiert, und nun schien etwas so Unbedeutendes wie ein fehlerhaftes Reifenventil ihr Bewusstsein ausgelöscht zu haben. Die Arbeit eines Coroners erinnerte ständig daran, dass täglich und ohne Vorwarnung das Leben selbst der Stärksten beendet sein konnte. Und wo gingen sie hin, diese armen Seelen, die mit gegrilltem Hackfleisch und ein paar Zwiebeln zwischen den Zähnen ins Jenseits befördert worden waren? Der Gedanke,dass der Abgang so leicht war, wie ein Licht auszuknipsen, könnte etwas Beruhigendes an sich haben. Leider glaubte Jenny nicht daran.
Zwei Tabletten reichten nicht aus, um sie zu betäuben. Es schien zu einer Gewohnheit von ihr zu werden, in der Dunkelheit zu liegen, die Bettdecke über die Ohren zu ziehen und bei jedem Geräusch zusammenzuzucken. Bilder von Mrs. Jamal, den verschwundenen Jungen und den Leichen im Lieferwagen standen ihr ständig vor ihrem geistigen Auge und schlichen sich in ihre Träume ein. Mrs. Jamal und sie selbst verfolgten darin in einem Labyrinth anonymer Straßen einen schwarzen Minivan, der sich mit einem platten Reifen dahinschleppte. Verzweifelt, atemlos und erschöpft bogen sie um eine Ecke, um zu sehen, dass er gegen einen Baum gefahren war. Aus den Fenstern tropfte Blut aufs Pflaster. Während Mrs. Jamal jammerte und an ihren Kleidern zerrte, nahm sich Jenny wütend zusammen und riss die Autotür auf. Ein junges Mädchen sah zu ihr auf, schlug die blutigen Hände vors Gesicht. Der Schrei des Kindes zerschnitt die Luft. Jenny wich zurück und wollte fliehen, aber ihre Beine waren wie
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