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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. R. Hall
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versteinert. Während sie noch darum kämpfte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, fiel ein kalter Schatten auf sie. Die körperlose Stimme ihres Sohnes sagte: »Du kennst mich nicht. Du wirst mich niemals kennen.« Sie versuchte, nach ihm zu rufen und ihn aus seinem Versteck zu locken, aber schon veränderte sich die Landschaft und wurde zu der Straße, in der Jenny als Kind gelebt hatte. Einen Moment lang wähnte sie sich in Sicherheit, doch dann merkte sie, dass die Häuser nur aus Fassaden bestanden. An den Fenstern hingen keine Gardinen, und im Inneren befanden sich weder Menschen noch Möbel. Nunmehr vollkommen allein, begann sie zu weinen.
    Sie erwachte, weil ihr Kissen durchnässt war. Das Grauen,das sie gepackt hatte, war in seiner Klarheit überwältigend. Jenny setzte sich auf, tastete nach dem Lichtschalter und wollte das Bild von dem Mädchen mit dem blutüberströmten Gesicht abschütteln. Es war vier Uhr nachts. Sie redete sich ein, dass es nur ein Traum gewesen war, Resultat einer geistigen Unruhe, die sich bald legen würde. Aber sie legte sich nicht. Das Gesicht des Mädchens, das ihr entfernt bekannt vorkam, stand ihr beharrlich vor Augen. Es drängte sich auf, verfolgte sie, flehte um Aufmerksamkeit.
    Jenny zog sich ihren Morgenmantel über und ging nach unten. Auf dem Weg schaltete sie alle Lampen an. Sie nahm ihr Tagebuch aus dem Schreibtischfach und begann zu schreiben. Dann skizzierte sie hektisch das Gesicht des Mädchens …
    Früh am Morgen verließ sie die M48 und bog auf den Parkplatz der Raststätte Severn View ein, wo sie sich mit McAvoy verabredet hatte. Er lehnte an seinem alten schwarzen Ford und rauchte. Sie fuhr in die Parklücke daneben und stieg aus. Der eiskalte Wind schnitt ihr förmlich in die Wangen.
    McAvoy lächelte mit müden roten Augen, die aussahen, als hätte er nicht viel geschlafen.
    »Was für ein Anblick – frisch und strahlend, und das trotz dieser gottverdammten Uhrzeit.«
    »Drei Stunden Schminken machen’s möglich.«
    »Bescheiden auch noch.« Er warf seinen Zigarettenstummel auf den Boden und trat ihn aus. »Sie sind wahrhaftig eine der unschuldigen Seelen dieser Welt.« Mit beiden Händen strich er sich die Haare nach hinten und lockerte die steifen Schultern. Sie konnte seinen Kater sogar spüren .
    »Spät geworden?«
    »Liegt an den Leuten, mit denen ich Geschäfte mache. Sie neigen nicht dazu, sich an die üblichen Schlafenszeiten zuhalten.« Er zitterte. »Die Heizung meiner alten Klapperkiste ist kaputt. Besteht Hoffnung darauf, dass Sie mich mitnehmen?«
    »Hatten Sie nicht gesagt, dass Madog uns hier treffen würde?«
    »Das hatte ich auch vorgeschlagen, aber er schien etwas zögerlich. Ich weiß allerdings, dass er heute Morgen Frühschicht hat. Er sollte gleich seine Pause machen.«
    McAvoy roch angenehm nach Zigaretten, Whisky und einem Hauch Parfüm. Durch die hochgedrehte Heizung erfüllte sein Geruch ihr kleines Auto und beschwor Bilder von billigen Casinos und halb nackten Kellnerinnen herauf.
    »Nehmen Sie die Fahrbahn in Richtung Norden, dann kommen wir zum Kantinengebäude am anderen Ufer«, sagte McAvoy und öffnete sein Fenster einen Spalt. »Stört es Sie?«
    »Ich habe Schmerztabletten dabei, falls Sie welche brauchen.«
    »Danke, aber ich hege eine abergläubische Abneigung dagegen, selbst verursachte Schmerzen zu behandeln. Nicht auszuschließen, dass der Teufel sie mir doppelt so stark zurückschenkt.«
    Sie lächelte und fuhr eine Weile schweigend weiter. »Meinen Sie das ernst?«
    »Lesen Sie es in Ihrer Bibel nach: Matthäus-Evangelium – neun Erwähnungen der Hölle. Die können nicht alle metaphorisch gemeint sein.«
    »Sie klingen wie meine Assistentin. Sie gehört einer evangelikalen Kirche …«
    »Mein Beileid. Diese Leute tragen keine Poesie und keine Demut im Herzen«, unterbrach sie McAvoy. »Gehen Sie lieber mal alle vierzehn Tage zur Beichte und breiten Sie vor einem zölibatären Priester Ihre Sünden aus. Das hilft Ihnen zu erkennen, wo Ihr Platz in der Welt ist.«
    »Ist es das, wonach Sie suchen?«
    »Ich bemühe mich.«
    »Und wie lässt sich die Bemühung mit Ihrer Arbeit vereinbaren?«, fragte Jenny neugierig. »Ich weiß ja, dass auch Kriminelle jemanden brauchen, der sie verteidigt, aber …«
    »Als ich im Gefängnis saß, wissen Sie, wer mich besucht hat? Und wer meiner Frau Geld gegeben hat? Meine Klienten. Von meinen rechtschaffenen Kollegen habe ich kein verfluchtes Wort mehr gehört. Wenn es nach

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