Totenstätte
waren sie drei Meilen einer schmalen Straße gefolgt, die dann für eine weitere Meile in einen Feldweg überging. Es war bereits vollkommen dunkel, als Jenny vor dem Tor auf einen Platz fuhr, auf dem sich Werkzeug und Baumaterial stapelten. Das Haus, das aussah wie zwei miteinander verbundene Cottages, wurde gerade renoviert. Die eine Hälfte mit den erleuchteten Fenstern im Erdgeschoss wirkte bewohnt, die andere war noch eine dachlose Hülle. Jenny ließ McAvoy auf die Heilige Jungfrau schwören, dass er im Auto bleiben würde. Er wünschte ihr viel Vergnügen und stellte seine Rückenlehne zurück, um ein Nickerchen zu machen.
Sie öffnete den Riegel des schweren Tors und suchte sich im Licht der Miniaturtaschenlampe an ihrem Schlüsselanhänger einen Weg zwischen den Schlaglöchern hindurch, vorbei an dem alten Land Rover mit dem schicken Aluminium-Hardtop. Bevor sie den schweren Eisenklopfer an der Vordertür anhob, schaute sie zum Golf zurück. McAvoy war in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Dabei würde es hoffentlich auch bleiben.
Ein Mann in Jeans und einem mit Farbe vollgekleckerten Sweatshirt kam an die Tür. Hinter ihm im Haus bellten Hunde. Er hatte das richtige Alter der gesuchten Person, aber sein Haar war kurz geschoren. Sein Körper war so durchtrainiert und muskulös wie der eines Menschen, der viel Zeit an der frischen Luft verbringt. Nervöser, als sie es erwartet hatte, fragte Jenny ihn, ob er Christopher Tathum sei. Als er bejahte, ließ sich an seinem Verhalten keinerleiAngst oder Vorsicht erkennen. Er war einfach nur ein Mann, der auf dem Land lebte und ein Haus renovierte.
Sie fühlte sich schuldig, als sie ihm erklärte, dass sein Name als der eines möglichen Zeugen in einem ihrer Fälle gefallen sei.
»Tatsächlich? Und um was für einen Fall handelt es sich?«, fragte er. »Ich glaube nicht, dass ich irgendjemanden kenne, der in letzter Zeit gestorben ist.« Seiner Stimme nach war er durchaus gebildet. Irgendetwas kam Jenny vertraut vor, aber sie konnte es nicht zuordnen. Seine Augen blickten intelligent, sein Gesichtsausdruck war geduldig, aber skeptisch.
Die Worte sprudelten aus ihrem Mund, ohne dass sie noch einmal nachgedacht hätte. »Ende Juni 2002 sind in Bristol zwei Männer indopakistanischer Herkunft verschwunden. Sie wurden auf dem Rücksitz eines Wagens gesehen, den Sie möglicherweise damals ausgeliehen hatten.«
Tathum lächelte verblüfft. »Wer hat Ihnen das denn erzählt?«
»Das kann ich im Moment leider nicht sagen. Ich brauche aber eine Aussage von Ihnen, in der Sie erklären, wo Sie damals waren. Am 28. Juni 2002, um genau zu sein.«
Er schien belustigt. »Und wenn ich es nicht mehr weiß?«
»Denken Sie ein bisschen nach. Warten Sie, welche Erinnerungen wieder hochkommen.« Sie gab ihm die letzte Visitenkarte, die noch in ihrem Portemonnaie steckte. »Vielleicht könnten Sie Ihre Aussage als Brief formulieren und mir übers Wochenende unterschrieben ins Büro faxen? Wenn es Ihnen lieber ist, kann ich auch meine Assistentin vorbeischicken.«
Im Licht der schwachen Glühbirne der Veranda, auf der sie standen, sah er auf die Karte. »Ich weiß nichts über irgendwelche Indopakistaner. Ich bin Maurer.«
»Auch damals schon, Sir?«
»Ich dachte, ich soll einen Brief schreiben.« In seiner Miene lag jetzt etwas Bedrohliches. Sein Gesicht hatte sich zu einer abweisenden Maske verhärtet.
»Wenn Ihnen das möglich wäre. Vielen Dank.« Sie trat von der Tür weg und wollte über den Hof zurückgehen.
»Warten Sie einen Moment«, sagte Tathum. »Was wirft man mir vor?«
Sie blieb stehen und schaute zurück. »Man wirft Ihnen gar nichts vor. Die Untersuchung eines Coroners dient nur dazu, Fakten und Ereignisse zu einem Todesfall zusammenzutragen. Hier handelt es sich um einen mutmaßlichen Todesfall.«
»Ich weiß nichts über Ihren Fall. Sie verschwenden nur Ihre Zeit.«
»Dann sollten Sie genau das aufschreiben. Berichten Sie, wo Sie gearbeitet haben, mit wem Sie zusammen waren und so weiter. Dann kann ich Sie aus der Untersuchung heraushalten. Guten Abend, Mr. Tathum.«
Sie wandte sich wieder in Richtung Tor.
»Sie nehmen diesen ganzen Weg auf sich und sagen mir dann nicht einmal, was ich getan haben soll?«
Ihr Instinkt riet ihr, nicht stehen zu bleiben.
»He, Lady. Ich rede mit Ihnen.« Sie hörte seine Schritte hinter sich und drehte sich um. Jenseits der Lichter des Hauses war er nichts als ein wütender Schatten.
»Die Sache ist ganz einfach, Mr.
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