Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
die Alhambra mit Hufeisenbögen und Palmen im Innenhof oder wie Zuckerbäckerschlösschen oder Gefängnisse. Zuweilen standen SUV s hinter den gusseisernen Toren, hier und dort werkelten Gärtner. Einer wies mir den Aufstieg gen Himmel.
Nach einer halben Stunde bergan verlangte Cipión getragen zu werden. Ich begegnete niemandem. Der Irrsinn der Marquesa blieb unten liegen, Zikaden herrschten. Die Einsamkeit roch nach Pinien, Thymian und sonnenwarmem Holz. Hummeln summten, Orchideen blühten. Ich atmete aus und ein. Was für ein Ausblick über die Bucht und die Stadt, die niemals Fremde aufnahm, auch wenn sie sie beherbergte. Die Zivilisation gruppierte sich spielzeugklein um den Hafen, in dem krachend die Ibiza-Fähre anlegte.
Ich erlag dem großen Lächeln des Überblicks und beschloss, Richard ehrlich um Verzeihung zu bitten. »Rede wieder mit mir«, würde ich sagen. »Ich habe echt was gelernt. Wer sich alle Freiheiten nimmt, ist am Ende allein.«
»Du denkst doch wieder nur an dich, Lisa«, sprach er. »Es tut dir um deinetwillen leid, wegen der Folgen für dich.«
»Seit wann interessieren dich Motive? Das Ergebnis zählt. Ich werde dich nicht mehr absichtlich verletzen.«
»Leider war es einmal zu viel, Lisa. Ohne Ehrlichkeit geht es jetzt nicht mehr.«
Ehrlichkeit? »Das ist zu viel, Richard. Meine Schwertgosch könnte ich zähmen – vielleicht –, aber meine Gedanken?«
So allerdings wird auch keine ehrliche Bitte um Entschuldigung draus. Nix hatte ich gelernt. Viel hatte ich noch zu denken, klarzustellen und zu beschließen. Bis zum Dénia-Kreuz war es noch weit, und der Pfad, der auf dem Bergrücken kaum sichtbar war, führte über Felsbrocken, zwischen denen Stachelgehölz stand, das Fehltritte bestrafte.
Das musste heute nicht sein. Vielleicht morgen oder übermorgen. Auch würde ich auf diesem Saurier die Leiche von Héctor nicht einfach so finden, nicht mal mit Cipións Gespür für Leichen.
Ich kniff, ich kehrte um.
Als es dunkel war, holte ich Julia ab und ging mit ihr im Hafen von Jávea essen: Salat, Tapas und Lamm. Sie aß wie jemand, der schon lange keinen Teller mehr vor sich gehabt hatte, und erzählte Schicksalsschläge. Ihre Mutter hatte sich erhängt, ihr Vater war als Fischer bei einem Sturm ertrunken, ihre Schwester in den Pyrenäen vom Blitz erschlagen worden, ihr Bruder hatte sich in Alicante den goldenen Schuss gesetzt, ihre erstgeborene Tochter war von einem Auto überfahren worden, ihr Mann an Krebs gestorben.
»Ich habe es jedes Mal gewusst«, erklärte sie mir. Ihre Mutter habe sie als Foto an der Wand gesehen, wo kein Foto hing, ihre Schwester in den Wolken, die plötzlich deren Gesichtszüge angenommen hätten, die Tochter habe sie aus dem Kinderzimmer rufen hören, obgleich sie nicht zu Hause war. Zur Härte ihres Geschicks gesellte sich die Angst vor diesen Visionen.
»Und Héctor?«, fragte ich. »Hast du den gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Am Tag des Sturms nicht und überhaupt nicht. Deshalb glaube ich, dass er lebt.«
Am andern Tag erkundigte ich mich in Dénia bei der Policía Local, die im beflaggten Rathaus untergebracht war, nach dem Unwetter vom Sonntag nach Dreikönig. Ohne mir auch nur ein Mal in die Augen zu schauen, erklärte mir der Beamte lustlos, was solche Regenfälle anrichteten. Das Wasser rauschte durch die barrancos, die trockenen Bachbetten, nach unten. Waren sie verbaut oder von Unrat verstopft, was in den Siedlungen oft der Fall war, dann bahnte sich das Wasser woanders seinen Weg, riss Autos mit, spülte Gärten weg, tötete. Nach Julias Sohn hätten Polizei und Jäger mit ihren Hunden gesucht. »Er ist nicht auf dem Berg, glauben Sie mir.«
In Las Marinas, wo die Touristen in ihrer Welt am Strand unter sich waren, trieb ich mich tagelang herum und fragte Kellner, Ladenbesitzer und Hotelangestellte, ob Anfang Januar ein Juri Katzenjacob hier gewesen war.
»Juri, el diablo?«, fragte einer. »Der bei euch im Gefängnis sitzt? Ich habe es im Internet gelesen. Er hat in England ein Erdbeben ausgelöst. Er wird noch großen Schaden anrichten, glaub mir!«
Die ersten Abende verbrachte ich in den Rand- und Rotlichtbaracken, wo Briten und Deutsche für Deutsche und Briten Rummel machten. In einem Fitnessstudio, das hier gimnasio hieß, begegnete ich am dritten Tag dem dunklen forschenden Blick einer jungen Frau mit Kurzhaarschnitt. Sie hieß Rufa und sprach Kastilisch mit mir. Ich erfuhr: Culturismo nannte man hier den rüden
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