Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
Alteingesessenen betrieben wurde. Dort bestellte ich einen Teller boquerones. Die Frau, die mir die in Öl und Essig eingelegten Sardellen brachte, wurde munter, als ich nach Héctor Quicio und seinen Eltern fragte.
»Ja, der Vater ist gerade gestorben, aber nicht mal zur Beerdigung hat sich der Junge blicken lassen. Er ist im Winter gekommen, um den Eltern im Lokal zu helfen, aber keine vierzehn Tage hat er es ausgehalten. Sie haben das Lokal, La flor del mar, an der Straße zum Parador. Julia wird verkaufen müssen. Vielleicht hat sie schon verkauft. Das weiß ich nicht.«
Ich fuhr die Avenida del Mediterráneo entlang, eine geflickte Straße ohne Seitenbefestigung und Glanz. Hier gab es auch keinen Strand, nur rotschwarzen Fels, der einst in Quadern abgebaut worden war. Wasser stand in viereckigen Löchern. Es roch nach Krabbenkadavern und faulenden Fischköpfen. Die wenigen Restaurants am Straßenrand hatten ihre prallen Zeiten längst hinter sich. La flor del mar, die Meeresblüte, war geschlossen.
Ich tappte mit Cipión an Müllsäcken vorbei, die von einer Katze oder Ratten aufgerissen und geplündert worden waren, ums Haus herum. Auf einer Leine hingen Badesachen, Schnorchel und Tauchermaske zum Trocknen. Eine Terrasse aus Beton ragte direkt ins Rauschen des Meeres. Dort saß im Schatten einer zerschlissenen Marquise eine hagere Frau von Mitte vierzig in kurzen Jeans und Trägershirt auf einem Plastikstuhl vor einem Eimer. In der einen Hand hielt sie einen Lappen, in der andern eine Schere. Auf dem Boden häuften sich Stachelschalen von Seeigeln.
»Hola, me llamo Lisa«, sagte ich.
Es war ein trostloses Gesicht, das sich mir zuwandte.
»Y esto es Cipión!«
»Cipión?«, sagte sie mit von langem Schweigen steifen Lippen, »das ist doch einer der beiden sprechenden Hunde von Cervantes. Manche sagen, er sei dumm und naiv, aber er prahlt wenigstens nicht so wie Berganza.«
»Meiner spricht gar nicht«, erwiderte ich. »Er bellt nicht mal.«
»Recht hat er. Was gibt es schon zu sagen. Ich heiße Julia.« Sie hob die Hand mit einem Seeigel. »Willst du?«
»Äh!«
»Hast du es schon mal probiert? Vorsicht, Cipión!«
Eine Berührung mit den Stacheln der ausgehöhlten Seeigel reichte dem Gedackelten, um sich pikiert hinzusetzen und den Kopf über unsere Gefräßigkeit zu schütteln.
Julia schnitt einen Seeigel mit der Schere unten auf, kippte das Wasser hinaus, schnippelte die Stachelspitzen ab und reichte mir das Tier auf einem Lappen. Man schlürfte die fünf roten Stränge, die wie ein Seestern in der Innenschale klebten. Es war lecker, muss ich sagen, austernmäßig.
»Ich hole sie selbst aus dem Meer. Jeden Tag«, sagte sie. »Es ist eine kalorienarme und eiweißreiche Nahrung.«
Ein bisschen mehr Kalorien hätten ihr allerdings gutgetan. Ich bot ihr eine Zigarette an und gab ihr Feuer. Zu Stuttgart fielen ihr zuerst Mercedes und Porsche ein.
»Mein Sohn hat mal in Stuttgart gearbeitet. In einem Dorf in der Nähe.«
»Ja, in Holzgerlingen.«
Ihre Augen fixierten mich nur ungern. Sie erwarteten Schmerzen.
»Ich habe ihn nicht kennengelernt«, erklärte ich. »Aber ich suche ihn. Ich war schon in San Vicente. Aber das Institut für Parapsychologie ist abgebrannt.«
»Es ist sowieso geschlossen worden. Der Leiter hatte behauptet, die Gesichter von Bélmez seien wahrhaftiger Spuk, aber nun war es doch nur Betrug. Da hat man ihm die Gelder gestrichen. Und Héctor hatte ihn überführt. Da musste er natürlich gehen.«
»Wo ist er jetzt?«
Julia zog den Rauch tief in die Lungen und schaute in den Himmel zwischen Meer und der zerschlissenen Sonnenschutzplane. »Ich habe bisher geglaubt, dass er wieder nach Deutschland gegangen ist, in das Institut. ›Mach dir keine Sorgen‹, hat er zu mir gesagt. ›Wir werden bald viel Geld haben.‹«
Und darauf wartete sie nun. Deshalb saß sie hinter ihrem Restaurant und ernährte sich von Meeresfrüchten, nach denen sie selbst tauchte.
»Wann war das?,«, fragte ich.
»Am 23 . Januar. Da ist er nach Dénia gefahren. Er wollte sich mit jemandem treffen, jemandem aus Deutschland. Es war ein Sonntag. Sie wollten auf den Montgó steigen. Das ist der Berg.« Sie deutete blicklos hinter sich auf den Saurier. »An dem Tag hat es ein Unwetter gegeben. Drüben in Dénia. Die halbe Stadt war überschwemmt, ein Mensch kam ums Leben. Ich habe mir nichts gedacht, als Héctor abends nicht zurückkam. Er wird nicht können, habe ich gedacht, bei diesem Wetter. Sein
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