Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
erklärte dem Mann, der ihn entgegennahm, dass ich auf dem Berg in einer Höhle säße. »La Cova de l’Aigua?«, fragte er zurück. Ich hatte keine Ahnung, aber so viele Wasserhöhlen gab es wohl nicht. »Bleiben Sie, wo Sie sind! Es wird jemand kommen, Sie holen.«
Das Feuer kam mir dann doch sehr nahe, es nagte am Grünzeug und trockenen Geäst und schaute auch bei mir herein. Schlimmer war allerdings der Qualm. Er strich von unten herein, sammelte sich unter der Decke und waberte nur langsam wieder hinaus. Cipión nieste in wildem Protest, und ich legte mich auf den Boden und atmete unterhalb des Rauchs feuchte, erdige Luft. Dann war auch das vorüber, und das lange Warten begann.
Im Kopf ging ich die Kontakte der letzten zwei Wochen durch. Es waren sehr viele gewesen, die ich angesprochen hatte. Es musste nur einer von ihnen zum Telefon gegriffen oder per E - Mail Meldung gemacht haben – an wen auch immer –, dass hier eine schräge Person mit Narben im Gesicht und Dackel nach Juri Katzenjacob fragte und nach Héctor suchte.
Nehmen wir an, es war Oiger Groschenkamp, der verhindern wollte, dass ich Héctor fand.
In Neuschwanstein musste sich etwas ereignet haben. Rosenfeld hatte es auf der improvisierten Presseinformation für den Journalisten der Allgäuer Zeitung heruntergespielt. Weil der Geldgeber Groschenkamp es so wollte. Anschließend hatte er die Million überwiesen. Und zwar auf ein Schweizer Nummernkonto, damit die Entdeckung vor der Öffentlichkeit geheim blieb. Danach hatte Groschenkamp Rosenfeld eine Karte der Bank mit der Nummer des Kontos übergeben.
Juri und Héctor hatten sich schon ins Fäustchen gelacht. Doch dann hatte es Streit gegeben. Das Treffen von Juri und Héctor hier in Dénia bekam nur Sinn, wenn es ums Geld gegangen war. Hatte Héctor es wirklich mitgebracht? Und war Juri dann gekommen, um seinen Teil einzufordern? Richard hätte mir sagen können, ob die Million noch auf dem Nummernkonto lag oder nicht. Aber er sprach ja nicht mit mir. Nun gut, ich konnte auch selber denken. Warum nämlich hätte, wenn er im Besitz einer Million gewesen wäre, Juri nach Holzgerlingen zurückkehren sollen, um Rosenfeld zu töten? Nein. Héctor hatte das Geld nicht an sich gebracht. Die beiden hatten sich über etwas anderes gestritten. Vielleicht darüber, ob Rosenfeld wirklich umgebracht werden musste, damit man das Nummernkonto plündern konnte.
Juri hatte vermutlich kein Problem darin gesehen, Héctor aber sehr wohl. Vielleicht hatte er es nicht geplant, doch dann hatte es sich günstig ergeben, als das Unwetter über ihnen niederging, und Juri hatte Héctor in irgendeinen Abgrund geschubst. Juri hatte den Streit definitiv überlebt, er war nach Holzgerlingen zurückgekehrt und hatte Rosenfeld getötet. Vielleicht weil Rosenfeld inzwischen gemerkt hatte, dass er betrogen worden war, und ihm die Million verweigerte. Womöglich hatte Juri sich das Geld nun selbst holen wollen. Doch die Visitenkarte der Bank mit der Nummer des Kontos befand sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im Institut, sondern in einem Buch aus Rosenfelds Regal, das sich Derya ausgeliehen hatte.
Zwei Zeugen der Ereignisse von Neuschwanstein waren damit beseitigt. Héctor konnte nicht mehr reden, Rosenfeld war tot. Allerdings konnte Juri nicht auch Desirée als weitere Zeugin von Neuschwanstein getötet haben. Als sie starb, saß er schon im Gefängnis.
Es sei denn, er konnte es tatsächlich: jemanden totzaubern. Die Vorstellung war erstaunlich schwer zu vertreiben. Sie nährte sich aus Ängsten. Vielleicht hatte es im Fall Desirées gereicht, dass Juri ihr die Nachricht zukommen ließ, er werde sie per Geisteskraft töten. Daraufhin war sie in den Seelenzustand verfallen, den Finley mir auf der Fähre nach Iona geschildert hatte, das tödliche biologische Patt zwischen Stress und Depression.
Am frühen Nachmittag holten mich drei Männer in Brandschutzkleidung aus der Höhle. Auf der Polizeistation im Rathaus zeigte ich ihnen das Foto vom Brandstifter. Sie kannten den Mann. »Bodenspekulation«, erklärten sie mir, mit dem hier üblichen Gestus des »Das müssen Sie nicht so genau wissen. Sie wollen es auch gar nicht wissen. Sie wollen nur Sonne und Meer«.
Ich schickte ihnen das Bild vom Handy auf ihren Mailkasten und machte meine Aussage. Das dauerte einige Stunden. Immerhin erbot sich einer der Polizisten dann, mich zurück an den Berg zu der Stelle zu fahren, wo mein Auto stand.
Die Arbeiter waren im barranco
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