Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
noch nicht viel weitergekommen als am Morgen. Einer stand unten im Bachbett und stocherte mit einer Stange in die Röhre einer Zufahrt zu einem Grundstück. Ein anderer warf ein verrostetes Bettgestell in den Pick-up. Mein uniformierter Chauffeur hielt und rief aus dem Fenster nach einem Paco. Einer der Männer drehte sich um. Was sie in ihrem maunzigen Dialekt besprachen, verstand ich nicht. Aber Cipión schnüffelte plötzlich in die Luft. Er hatte seine Mundwinkel zurückgezogen und war angespannt. Etwas gefiel ihm nicht.
Da rief der Mann im Graben etwas und kletterte hastig zu uns herauf. Der Polizist war plötzlich nervös und stieg aus. Ich tat es ihm nach und setzte Cipión auf den Boden. Seine Rute hing.
»Bleiben Sie weg!«, befahl mir der Polizist. Aber ich sah genug, bevor er sich entschloss, mich anzufassen und vom Kanal wegzuschieben.
Im Wust von Ästen, Plastikflaschen, bleichen Palmblättern und Geröll erkannte ich eine Rippe und ein paar Röhrenknochen, von denen einer von Fetzen eines Sportjackenärmels undefinierbarer Farbe umschlungen war. Weiter unten lag ein Turnschuh mit Inhalt.
47
Als ich in Stuttgart landete, schwirrten die Nachrichten über Laufbänder und Ticker, dass die Polizei die Redaktionsräume des Guten Tags und des Bielefelder Abendblatts durchsucht habe, um Beweismaterial für illegale Abhörmaßnahmen zu sichern. Am Abend sah ich im Fernsehen, wie kistenweise Akten aus den Redaktionsräumen getragen wurden. Ein Berliner Oberstaatsanwalt erklärte, es werde Wochen dauern, bis alles gesichtet worden sei.
Besser wäre es gewesen, man hätte es nicht getan. Aus dem Abhörskandal wurde plötzlich ein Angriff auf die Pressefreiheit. Was als Kleinkrieg der Groschenkamp-Presse gegen die Stuttgarter Staatsanwaltschaft, namentlich Richard Weber, begonnen hatte, brodelte nun als Fehlverhalten der Staatsorgane in der Tagesschau . »Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft gerät erneut unter Druck.«
Da war die Rede von einer Luxusreise von Oberstaatsanwalt Weber, der nur maßgeschneiderte Anzüge und handgefertigte Schuhe trägt, in Begleitung zweier Damen (Standbilder von mir und Derya eingeblendet) nach Edinburgh mit einem Tagesausflug auf die schöne Hebrideninsel Iona, einschließlich eines folkloristischen Ausflugs in Landestracht. Dazu eine Sequenz von Richard im Schottenrock. Abholen lassen hatte sich der feine Herr mit seinen beiden Damen vom Privatjet (Bild) des Milliardärs Oiger Groschenkamp. Anschließend eine Übernachtung in der Villa an der Elbchaussee. »Was ist Weber für ein Mann?«, fragte der Reporter und gab die Antwort: ein ehrgeiziger Wirtschaftsstaatsanwalt, der längere Zeit in Argentinien gelebt habe, mit dem vormaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Mappus auf Du und Du gewesen sei (Richard beim Überqueren der Straße mit der Robe überm Arm), Tennispartner der örtlichen Prominenz (Richard auf dem Tennisplatz auf der Waldau bei einem bissigen Aufschlag), der seine Herkunft aus engherzig pietistisch-schwäbischer Provinz nie ganz habe abstreifen können. In der Stuttgarter Staatsanwaltschaft gelte er (Richard am Schreibtisch beim Umblättern von Akten) seines Übereifers wegen schon seit längerem als Belastung.
Oma Scheible war so aufgeregt, dass sie klingelte, statt ihren Schlüssel zu benutzen. »Hen Sie des g’sehe? Wer hätt au des denkt. Der Herr Weber isch so ein feiner Mann. Aber i ka ihn sogar verschtehe. Wemmer immer mit so reiche Leut zu tun hat, die wo Millione verdienet, dann will mer halt au mal teilhabe.«
»Frau Scheible, wie lange kennen Sie Herrn Weber jetzt …«
»Ha, zehe zwölf Johr werre’s scho sei.«
»Trauen Sie ihm so etwas zu?«
Die Alte ließ die Augen kreisen. »Eigentlich net. Aber des könnet die sich doch net elles aus de Finger g’soge hen.«
»Doch, sie können!«
»Des saget Sie, wo Sie selber Schurnalischtin sind. Des isch doch Ihre eigne Zunft.«
»Darum, Frau Scheible.«
Ich bereute zutiefst, dass ich selbst einst als Amazone -Redakteurin Interviewpartnerinnen erfunden hatte. Warum hatte mich keine innere Instanz daran gehindert? Es war eigentlich egal gewesen. Es hatte keine Bedeutung gehabt. Aber so fängt es an. Mit einer kleinen Fälschung. Wir hatten es alle schon getan: aus einer Hausdurchsuchung eine Razzia gemacht, aus einer Vernehmung ein Verhör, aus einem Kursrückgang einen Börsencrash, aus einem Unfall eine Katastrophe. Die journalistische Realität schwebt immer ein paar Meter
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