Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
Presse anfing, nach den Leichen zu graben, die ich im Keller hatte, dann gute Nacht. Sie machen uns fertig, einen nach dem andern! Erst Richard, jetzt auch mich.
Angst ist kein Ausdruck für das, was mich ansprang. Klebriges Grauen. Am liebsten hätte ich mich bei der Bürste in der Ecke hinterm Klo zusammengekauert und wäre nie wieder rausgekommen. Denn ein Spuk polterte durch meine Wohnung. Der Fernseher brüllte, die Zeitungen wucherten, das Radio kreischte. Vielleicht massakrierten sie jetzt gerade Cipión. Und ich war zu feige, ihm zu Hilfe zu kommen.
Nach ein oder zwei Stunden, in denen nichts geschah, wagte ich mich wieder zu bewegen. Ja, die Welt drehte sich noch. Stadtbahnen fuhren in die Haltestelle Stöckach vor meinem Fenster. Volk wartete. Autos rollten über die neu gepflasterte Schienenabzweigung Hackstraße. Der Bunker der Staatsanwaltschaft bleichte wie eh und je unter der Sonne. Ganz normaler Alltag. Das wird immer bleiben. Die Jungs und Mädels mit den Zigaretten in den Händen, die den Hochbahnsteig hinaufgehen, der Wind in den Linden vor dem Zeppelingymnasium, dass Cipión rausmuss, mir Sally im Tauben Spitz ein Pils hinstellt, dass die Benzinpreise steigen und wir darüber schimpfen.
Das ändert sich nicht, auch wenn die öffentliche Aufmerksamkeit für einen von Juri Katzenjacobs Verteidiger beantragten Haftprüfungstermin nächste Woche auf einmal gigantisch ist.
50
Mit Cipión an der Leine und argloser Miene wanderte ich am Tag der Haftprüfung vor zum Neckartor. So viele Polizeiautos hatte ich bei uns noch nie gesehen, obgleich an der Neckarstraße nicht nur die Staatsanwaltschaft, sondern auch das Amtsgericht liegt. Im Innenhof des Amtsgerichts rannten Kameramänner und ihre Reporter hin und her. Aber hier würden sie weder die grüne Minna noch Katzenjacob zu Gesicht bekommen, denn in Stuttgart saßen die Ermittlungsrichter in einem Gebäude unmittelbar hinter der Staatsanwaltschaft.
Ich ging vor bis zur Cannstatter Straße und schlenderte sie entlang. Die Tankstelle und der rechte Streifen dahinter waren von Polizeiautos zugestellt. Sie stritten sich mit den Kameraleuten und der freien Presse, die ans Tor heranwollten, durch das Katzenjacob zum Haftrichter gefahren werden würde.
Ich kehrte um, kürzte über die Heilmannstraße ab und ging die Neckarstraße zurück bis zum Gebäude des Roten Kreuzes, das seine Wand an der der Staatsanwaltschaft wärmte. Ich war nicht der einzige Schlauberger, der hoffte, durch dieses Gebäude dem Gebäude der Ermittlungsrichter nahezukommen. Ein paar Journalisten diskutierten mit zwei Mitarbeitern des Roten Kreuzes, die ihren Eingang verteidigten.
Nach allen Gesetzen der Normalverteilung realistischer Ereignisse wär’s das auch für mich gewesen. Aber als ich mich abwandte, um Plan B in Angriff zu nehmen, war Cipión weg. Die Leine baumelte schlaff an mir herunter, vom Halsband hing nur noch der Ring im Verschlusshaken.
»Cipión!«, schrie ich.
Da kam auch schon eine junge Frau, gefolgt von einem jungen Mann, zur von den beiden Männern hart verteidigten Tür heraus und fragte: »Ist hier der Halter eines Dackels?«
»Ja, ich!«
»Kommen Sie!«, sagte die Frau. »Wir können ihn nicht einfangen, er entwischt uns immer wieder«, erklärte der Mann.
»Das hat er doch noch nie getan!«, sagte ich. Man sagt so was in solchen Situationen. Man hat das nicht unter Kontrolle.
»Tja, es gibt immer ein erstes Mal«, antwortete der Mann. Auch dazu gibt es keine Alternative. Zuweilen werden wir von Situationen gesprochen, nicht von uns selbst.
Doch damit war ich drin.
»Da entlang.« Sie streckte den Arm aus.
Ich rannte den Gang hinunter, bog um eine Ecke und stand plötzlich draußen im Hinterhof. Drüben bei der Staatsanwaltschaft rauchte ein Pulk junger Menschen vor einer Hintertür.
»Haben Sie einen Dackel gesehen?«, rief ich ihnen zu.
Man deutete auf die Tür. »Da!«
Ich stürzte an ihnen vorbei hinein. Einer folgte mir. »Moment! Sie können nicht einfach …«
»Pst!«, machte ich.
Wir lauschten, ich meinte Cipións kurzbeinigen Galopp auf Linoleum zu hören und lief los. Eine Treppe hinauf, um eine Ecke.
»Warten Sie!«, keuchte hinter mir der junge Raucher. »Nicht so schnell. Ah, da vorn ist er ja!«
Am Ende des Gangs hatten sich Leute versammelt, die uns allesamt den Hintern zukehrten. Gesine Meisner schaute sich als Erste um und sagte: »Da kommt sie ja schon!«
Der andere, der sich umwandte, während er ein Bündel Freude
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