Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
immer öfter auch – selbst in den letzten Winkeln Chiles, Tibets oder Nordkoreas – den deutschen Satan und Hexer verfluchen, bitten oder anflehen, innezuhalten. Das alles erfahren wir brühwarm, es wird berichtet, diskutiert, erklärt, wiederholt. Die Informationsmaschinerie brummt wie nie. Und immer mehr gibt es zu berichten. Die Welt ist nicht friedlicher geworden, sondern wahnsinnig.
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Es ging richtig los, als das an sich seriöse und nicht zum Groschenkamp-Konzern gehörende überregionale Blatt Die Zeitung den Skandal bei der Stuttgarter Staatsanwaltschaft neu justierte.
»Sitzt Juri Katzenjacob zu Recht in Haft?«, fragte Die Zeitung . »Sechs Monate ist es her, dass er unter dem dringenden Tatverdacht der Störung der Totenruhe verhaftet wurde, doch bisher hat die Stuttgarter Staatsanwaltschaft keine Anklage zustande gebracht.«
Und, ging es weiter, was habe es mit dem Befreiungsversuch auf sich, den es im Februar gegeben haben soll, als der Gefangenentransport mit Juri Katzenjacob auf dem Weg zu einem Haftprüfungstermin etwa eine halbe Stunde vor dem geschlossenen Rolltor des Hintereingangs zum Amtsgericht stand, weil die Technik versagt habe und das Tor nicht zu öffnen gewesen sei? Der Angriff auf die grüne Minna sei letztlich an seiner dilettantischen Ausführung gescheitert, nicht am professionellen Eingreifen der Polizei. Ein mitgeführter Sprengsatz habe einen der drei Angreifer an Ort und Stelle getötet, ein Polizeibeamter sei schwer verletzt worden. Die Hintergründe der Tat seien völlig unklar. Bereits wenige Tage nach der Aktion hätten in Rumänien zwar zwei Brüder unter Tatverdacht festgenommen werden können, doch zur Aufklärung könnten sie nichts mehr beitragen, denn der eine sei kurz nach der Festnahme in Auslieferungshaft an einer Sepsis verstorben, der andere sei erhängt in seiner Zelle aufgefunden worden.
Du meine Güte. Die auch? Es war wie bei den andern. Auf den ersten Blick sah es nach Mord aus, schaute man aber genauer hin, verflüchtigte sich die Tat. Ich zählte und kam auf sieben solcher Fälle im Umkreis von Juri Katzenjacob: Gabriel Rosenfeld, Héctor Quicio und Desirée, die drei Rumänen und, nicht zu vergessen, Angela K., die kurzzeitige Freundin Juris aus Böblingen. Und war nicht auch der Steuerberater Rosenfelds überraschend verstorben? Dann wären es acht.
»Spuk?«, fragte der Redakteur. »Nein, vermutlich Schlendrian und Schlamperei im Schwabenländle. Und die Frage muss gestattet sein, was da los ist. Rosenfelds Leiche ist nicht von der Polizei, sondern von einer gewissen Lisa Nerz gefunden und sogar fotografiert worden. Wurden bei dieser Gelegenheit entscheidende Spuren verwischt und neue gelegt, die den Fall heute unlösbar erscheinen lassen? Nerz hat in der Vergangenheit schon von sich reden gemacht, weil sie sich für Leichen interessiert und der Polizei immer wieder gehörig ins Handwerk pfuscht. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der unlängst in die Kritik geratene Oberstaatsanwalt Weber ein persönliches Verhältnis zu dieser schillernden Figur der schwäbischen Transvestitenszene hat. Er muss sich jetzt die Frage gefallen lassen, ob er nicht zuweilen seine Dienstpflicht zur Verschwiegenheit vernachlässigt hat.«
Ihr Schweine!
»Und nun hört man ganz und gar Erstaunliches aus der Stuttgarter Staatsanwaltschaft«, endete der Artikel. »Offenbar glauben die Juristen neuerdings an übernatürliche Kräfte. Juri Katzenjacob, so ist zu vernehmen, stelle eine Gefahr für die allgemeine Sicherheit dar. Deshalb hat jüngst die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe übernommen. In Großbritannien gilt Juri Katzenjacob bereits als Hexenmeister, der für Zugunglücke verantwortlich gemacht wird und dessen vermeintliche Prophezeiung eines Erdbebens Anfang Mai zu einer Massenpanik geführt hat. Doch seit wann glauben deutsche Juristen an Übersinnliches? Und wo findet sich der Richter, der diesem Spuk ein Ende setzt und den jungen Mann unverzüglich auf freien Fuß setzt? Wenn der Malergeselle die ihm vorgeworfene Leichenschändung tatsächlich begangen hat, so möge man ihn anklagen. Wenn man sie ihm nicht beweisen kann, so muss er freigelassen werden. In jedem Fall erwarten ihn höchstens drei Jahre Haft. Und in solchen Fällen ist Untersuchungshaft eigentlich nicht üblich, zumal hier weder Fluchtgefahr vorliegt noch Verdunklungsgefahr.«
Ich raufte mir die Haare. Der konnte was erleben! Nein, stopp! Was wollte ich denn überhaupt erzählen? Wenn die
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