Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
über der Wirklichkeit da unten in den Straßen.
Oma Scheible überlegte es sich. Dann glitzerte sie mich an. »Übrigens, wemmer scho mal zamme schwätze: Hen Sie an Zerwürfnis?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Wo Sie jetzt weg waret, ischer nüberkomme, emmer wieder. I hen ihn dann amal abpasst. Hen Sie dem nix sagt? Richtig b’sorgt ischer g’wese.«
Mir war kurz ganz schwindelig vor Glück. Andererseits war er nun vermutlich zusätzlich verschnupft, weil er sich bei Oma Scheible nach meinem Verbleib hatte erkundigen müssen wie ein vor die Tür gesetzter Kater.
Ich fuhr auf den Haigst hinauf und klingelte an seiner Tür in der Kauzenhecke. Aber er machte nicht auf. Es brannte auch kein Licht oben. Sein Handy empfahl mir, es zu einem späteren Zeitpunkt noch mal zu versuchen.
Ich schlief schlecht und stand vor Sonnenaufgang auf, stellte mich ans Küchenfenster, von wo ich die Einfahrt zum Parkplatz der Staatsanwaltschaft sehen konnte, und wartete. Aber bis neun bog kein diplomatendunkler Daimler ein. Panik! Ich rannte raus, die Treppen hinunter, stürzte auf die Straße und lief in Staatsanwältin Meisner hinein, die auf dem Weg zum Bioladen war, um sich für die Mittagssünde ein süßes Stückle zu kaufen.
»Hoppla!«
»Ah, hallo! So ein Zufall … äh … haben Sie meine Mail bekommen? Man hat Héctor Quicios Leiche in Dénia gefunden.«
»Die Ermittlungen im Fall Katzenjacob liegen jetzt bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe.«
»Wieso das denn?«
»Offenbar ist er ein Fall für die öffentliche Sicherheit. Ich habe mir das nicht ausgedacht, glauben Sie mir. Aber vielleicht besser so, wenn wir mit ihm nichts mehr zu tun haben.«
»Es ist nie klug, Zeitungsredaktionen durchsuchen zu lassen.«
Meisner zuckte mit den Schultern. »Richard war auch dagegen.«
»Wo … äh … wo ist er eigentlich gerade?«
Meisner musterte mich. »Er ist für zwei Wochen auf der Schwäbischen Alb wandern. Bis wieder Ruhe einkehrt.«
»Was? Ist er schon suspendiert?«
»Nein. Er hat regulär Urlaub. Hat er Ihnen nichts gesagt?«
»Doch, ja, klar. Ich dachte nur …«
Meisner wollte nicht wirklich wissen, was ich dachte. Sie gierte nach einem süßen Stückchen.
»Haben die Durchsuchungen wenigstens was ergeben?«
»Kann man noch nicht sagen. Und ich darf es Ihnen auch gar nicht sagen.«
48
Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass die Wahrheit durch nichts von der Lüge zu unterscheiden ist? Durch gar nichts. Beide sehen absolut gleich aus.
Auf meinem Tisch liegt die Schauderliste der diesjährigen Unglücke und Katastrophen, die der Gute Tag kürzlich unter dem Titel »Wie weit reicht Juri Katzenjacobs Macht?« veröffentlicht hat. Sie besteht, da Beweise nicht zu erbringen sind, hauptsächlich aus Fragen: Wie konnte sich der EHEC -Erreger verbreiten, obgleich die angeblich verdächtigen Kleesamen bereits zwei Jahre zuvor aus Ägypten importiert wurden? Wieso fuhr die Flussfähre Bulgaria mit voller Kraft auf der Wolga, obgleich der Motor defekt war? (Sie sank innerhalb von Minuten.) Wieso stoppte ein Blitzeinschlag in Ostchina den einen Hochgeschwindigkeitszug, während der andere weiterfuhr und in den ersten raste? (Drei Waggons stürzten dabei von der Brücke.) Wieso führte ein Erdbeben in Japan zur Kernschmelze von gleich vier Atommeilern?
Die Liste hat über hundert Positionen, Flugzeugabstürze, Massenkarambolagen, Industriepannen. Die Zahl der Toten summiert der Redakteur auf 12 154 , nicht mitgerechnet die Toten des Erdbebens in Japan. Die Liste der Beinahekatastrophen ist genauso lang. Was beispielsweise hat der Norwegian Epic bei ruhiger See auf dem Pazifik ein autogroßes Loch in den Rumpf geschlagen? Wo kam die Aschewolke her, die ein niederländisches Flugzeug in Schottland zur Notlandung zwang? Wie konnten sich drei Schrauben am Riesenrad auf dem Prater lösen?
Es herrscht Endzeitstimmung auf den Straßen und Feststimmung bei den Informationsmedien. Sogar die Privatsender entdecken, dass stündliche Nachrichten ein Pfund mit Suchtpotenzial sind, das Werbeeinnahmen anzieht.
Es ist wie ein Rausch. Wir sind dabei, wenn irgendwo auf der Welt ein Flugzeug abstürzt, Züge zusammenstoßen, Schiffe sinken, Gaspipelines explodieren, Autos ineinanderrasen, Tornados Städte vernichten, Jahrhunderthurrikane ihre Sintfluten über New York ausgießen, die Menschen im Dutzend sterben, die Hinterbliebenen, Freunde und Nationen weinen, sich umarmen, Blumen niederlegen, ihr Unbegreifen ausdrücken und
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