Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
zu mir und fragte: Soll die wirklich dabei sein? Richard ignorierte die Frage. Sie versuchte zu erschauen, in welchem Verhältnis ich, das Biest, zu dem Schönen stand. Ihre Gemeinsamkeiten mit ihm waren von der ersten Sekunde an größer als seine mit mir: Alter, Titel, Kultur, Bildung, Eleganz, Erziehung, Weltläufigkeit …
»Ja, also«, hob sie noch mal an. »Dann kommen Sie doch bitte.«
Sie ging voran in Rosenfelds ehemaliges Arbeitszimmer. Richard biss die Zähne zusammen. Der Geruch nach Eisen existierte nur noch in meiner Einbildung und verflog rasch. Auch Cipión zeigte kein besonderes Interesse mehr. Es gibt Spezialkräfte, die Tatorte reinigen.
Dennoch vermied ich es, auf die Stelle zu treten, wo Rosenfeld gelegen hatte. Barzani dagegen führte Richard quer durch die Aura des Toten zum Schreibtisch. Noch immer stand dort der Mac-Bildschirm, davor die edle Designer-Tastatur von Apple. Zeitschriften und Bücher stapelten sich noch, das Glas mit Kugelschreibern und Bleistiften stand ebenfalls herum, aber dies war nicht mehr die Wirkungsstätte eines Lebenden. Und das lag nicht daran, dass die Kaffeetasse fehlte, die ich durchs Fenster gesehen hatte. Der Tisch war wie das ganze Büro von der Polizei gefilzt worden. Man hatte keine Unordnung hinterlassen, aber die Ordnung, die jetzt hier herrschte, war eine falsche und fremde, eine tote Ordnung.
»Die Schere«, fiel mir ein. »Haben Sie die eigentlich inzwischen gefunden?«
»Bitte?« Die Frau Doktorin runzelte mich an.
»Die große Schere. Sie haben sie gesucht, an dem Montag.«
»Ach so, ja. Nein. Aber etwas anderes habe ich gefunden.« Sie wandte sich an Richard. »Und zwar das hier. Ich habe es in einem Buch gefunden.« Sie hielt Richard eine Visitenkarte der L & P Bank AG in Zürich hin, auf deren Rückseite eine mindestens zwanzigstellige Nummer stand.
Richard setzte die Brille auf.
»Ich denke, Gabriel hat ein Nummernkonto in der Schweiz gehabt«, erklärte sie. »Das habe ich schon mal gedacht, als er von einer seiner Wandertouren mit Geld zurückkam. Er hat damals behauptet, er habe es beim Roulette im Kasino in Lindau gewonnen.«
»Riskant«, bemerkte Richard. »Wie kommt’s, dass der Polizei das entgangen ist?«
»Das kommt daher, dass ich mir das Buch ausgeliehen hatte.« Sie nahm ein ziemlich historisches Buch von Hans Bender mit dem Titel Unser sechster Sinn von Rosenfelds totem Schreibtisch. »Ich habe jetzt übers Wochenende bei mir aufgeräumt und es entdeckt. Als ich vorhin noch mal reinguckte, fiel die Karte raus. Und erst da habe ich gesehen, dass hinten die Nummer draufsteht.«
Richard studierte das Kleingedruckte auf der Visitenkarte der L & P Bank AG Zürich. Währenddessen schaute Dr. Derya Barzani mit Augen dunkel wie reife Burgundertrauben zu ihm auf. »Übrigens glaube ich nicht, dass das die richtige Nummer des Kontos ist. Gabriel hat all seine Pins und Codes verschlüsselt, damit er sie sich aufschreiben konnte. Er konnte sich keine Zahlen merken.«
Richard lächelte über seine Brille auf sie hinab. »Den Schlüssel kennen Sie nicht zufällig?«
»Nein, leider nicht.« Sie lächelte einverständig zurück.
»Hm.« Codes schreckten Richard nicht. Im Gegenteil. Sein Blick lief suchend umher. »Vielleicht helfen uns Vergleichszahlen weiter. Die meisten Menschen notieren sich Pins zwischen ihren Telefonnummern.«
»Gabriel hat seine Adressen und Termine online verwaltet. Damit er von überall Zugriff darauf hatte. Das Passwort dafür kenne ich. Ich musste ihm schon ein paarmal aushelfen.«
Während Derya Barzani den Computer hochfuhr, machte sich Cipión daran, das Büro abzuschnüffeln. Ich schaute mich ebenfalls um. Dabei sah ich zum ersten Mal den Einbauschrank hinter der Tür. Er war so hoch wie die Tür selbst, in drei Kassetten unterteilt und zweiflügelig zu öffnen. Ich drehte den Schlüssel und zog die Tür auf. Er enthielt in zwei Fächern Schachteln alter Tonbänder, Kameras, Gaußmeter, Wärmebildkameras, Camcorder, Infrarotthermometer, Kabelrollen, Stecker, Akkus und so weiter.
Ich langte durch und drückte gegen die Rückwand. Sie wippte leicht. Ich hatte vor drei Stunden meine Wohnung in der Neckarstraße im Jackett verlassen, nicht in Lederjacke, und war unzureichend ausgerüstet. Aber ein LED -Lämpchen hatte ich am Schlüsselanhänger. Ich leuchtete in den Schrank. Er war ziemlich pampig gestrichen worden. Die Ritzen zur Rückwand waren mit Farbe gefüllt und die war nicht gerissen. Wie Richard es
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