Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
die nach und nach aus den spärlichen Ortschaften der Umgebung in Abington einfuhren. Auch die ersten Fernsehteams und Pressefritzen langten an.
Ein Bus sei angefordert, erklärte uns die Stewardess, die umherging und auf vom Hotel geliehenem Briefpapier Namen und Nummern von Gepäckstücken notierte, soweit die festzustellen waren, und uns aufforderte, uns gleich bei Ankunft in Edinburgh mit der Fluggesellschaft in Verbindung zu setzen. Sie selbst hatte keine Zeit für Schock und Erschöpfung.
Derya rief McPierson an, der in den Nachrichten bereits von der Notlandung gehört hatte. Wir seien in eine Aschewolke geraten, so die erste Einschätzung von Polizei, Feuerwehr und Flugsicherung.
War das nicht letztes Jahr?, dachte ich. Die Aschewolke des isländischen Vulkans mit dem unaussprechlichen Namen, den mit der Zeit alle Nachrichtensprecher lustvoll zu lallen gelernt hatten, hatte für eine Woche den europäischen Flugverkehr lahmgelegt. Aber wo war da jetzt wieder was ausgebrochen? Und so unbemerkt von den Medien und der Flugsicherheit?
»Finley hat erzählt«, berichtete uns Derya, »der Pilot habe bei der Landung fast nichts gesehen, weil die Scheiben des Cockpits völlig zerkratzt waren.«
»Dann war das kein Elmsfeuer, sondern die statische Aufladung der Aschepartikel«, bemerkte Richard. Er klang enttäuscht. »Das dürfte auch den Funkverkehr beeinträchtigt haben. Deshalb hat der Pilot sich entschlossen, hier zu landen und nicht bis Edinburgh weiterzufliegen.« Für ihn war das Ereignis damit vorerst eingeordnet und die Welt wieder in Kästchen verstaut.
»Und wo ist die Aschewolke auf einmal hergekommen?«, fragte ich.
Der Fernseher auf der Veranda zeigte uns Bilder von der Maschine, wie sie quer über der Autobahn lag, jetzt in dickem Schaum und umringt von Feuerwehrfahrzeugen und Polizeiautos.
»Wir hätten ungeheures Glück gehabt, sagt Finley«, referierte Derya an Richard gewandt. »Wenn die Triebwerke nicht noch einmal angesprungen wären, wären wir auf den Acker gestürzt oder in den Ort.«
Richard nickte abwesend. Er sah plötzlich müde aus.
»Ohne Sie hätte ich das niemals überstanden!« Sie legte ihm beide Hände auf den Arm.
Er entzog sich. »Wenn Sie mich kurz entschuldigen würden. Ich möchte mir die Hände waschen.« Damit stand er auf und wandte sich in die Tiefen des Hotels.
Auch er brauchte seinen Moment der Besinnung. Sich in einer Toilettenanlage über ein Waschbecken beugen, das Gesicht nass machen, sich bewusst werden, dass man solch banale Gesten beinahe nie mehr gemacht hätte, sich eingestehen, dass man froh war, überlebt zu haben. Auch wenn er sich selbst nicht vermisst hätte, sein Organismus pumpte dennoch Adrenalin durch seine Adern und lechzte nach Erleichterung.
Deryas dunkle Augen richteten sich auf mich. Der überstandene Schrecken war größer als der, mit mir allein an einem Tisch zu sitzen. »Übrigens«, sagte sie, »ich hatte kein Verhältnis mit Gabriel.«
»Dann also Desirée.«
»Dazu kann ich nichts sagen. Ich weiß es schlicht nicht. Ich weiß nur, er ist am Wochenende gern in die Berge entschwunden. Und ob Desirée weiß, wie man in flachen Schuhen läuft, wage ich zu bezweifeln.«
Wir lachten schwesterlich böse.
»Ich hatte allerdings den Eindruck, dass Gabriel die Gesellschaft von Männern mehr schätzt«, setzte sie hinzu. Wobei ihre Augen mich nach dem andern fragten, dem, der sich gerade im Waschraum das Gesicht kühlte. Ist der etwa schwul?
»Was macht dein Freund in Berlin?«
Sie verdaute mein Du – es schmeckte bitter –, resignierte für eine Sekunde und straffte dann die Schultern. »Du bist doch lesbisch, oder?«
»Gratuliere zu der bahnbrechenden Entdeckung«, röhrte ich.
»Geht es nicht auch etwas leiser? Wir sind doch erwachsene Leute.«
»Du vielleicht, ich nicht. Übrigens, Rosenfeld hatte Trekkingstiefel an, als er starb. Wollte er in die Berge an dem Tag?«
Sie stippte Krümel von der Tischdecke. »Davon bin ich ausgegangen. Er ist gern ins Tannheimer Tal gefahren. Freitagabend, meist über Ulm. Ich habe immer vermutet, er hätte dort einen … einen Wanderfreund.«
»Bisher hat es immer geheißen, er habe an dem Abend McPierson vom Flughafen abholen wollen.«
»Was fragen Sie … was fragst du mich das alles? Ich habe es bereits ausführlichst mit der Polizei erörtert.«
»Die Polizei erörtert das aber nicht mit mir. Sie ist zur Verschwiegenheit verpflichtet. Richard übrigens auch.«
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