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Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Titel: Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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sagte der Pilot. »Unsere Triebwerke sind ausgefallen. Wir tun unser Bestes, um sie wieder zum Laufen zu kriegen. Bitte beunruhigen Sie sich nicht unnötig und haben Sie Verständnis, dass wir jetzt den Service unterbrechen.«
    Jemand lachte. Das war ich.
    Wir segelten weiter wie durch Watte. Am Knacken in meinen Ohren merkte ich, dass wir sanken. Wie dick sind eigentlich solche Wolken? Und was war das überhaupt für eine Wolke? Ich sah Deryas Lippen sich bewegen. Beten war eine Möglichkeit.
    Springt schon an, ihr dämlichen Motoren!, dachte ich.
    Cipión schmiegte sich an mich. Er zitterte. Und etwas sauste mir vors Gesicht. Überall von den Decken hingen auf einmal wie Seegras im Kopfstand orangefarbene Gewächse. Ich erinnerte mich an die Pantomime der Stewardess: Notausgänge, Schwimmwesten und Sauerstoffmasken. Richard langte nach einem Gewächs, zog sich die Maske aber nicht über. Es gab genug Luft. Sein Blick traf mich. Seine milchkaffeebraunen Augen leuchteten. Endlich Ende mit dem irdischen Jammertal. Ich glaube, er war in seinem Leben nur noch auf das Ende wirklich neugierig, auf den Tunnel und was danach kam. Im Gegensatz zu mir beunruhigte es ihn nicht, dass er nicht zurückkehren würde, um sich zu erinnern und allen andern vom Abenteuer des Sterbens zu erzählen. Ja, die Erinnerung, dachte ich, die ist unser Schatz. Die unterscheidet uns vom Tier. Dass wir Momente sammeln und uns kennen, als ob es die Zeit nicht gäbe.
    Richard strich Cipión über den Kopf und umfasste meine Hand. Sein Blick wurde ruhig. Ich spürte seine Lippen auf meinen, roch noch einmal seinen Pflegeduft nach Zeder und Zibet. Er hatte in all den Jahren, die ich ihn kannte, kein Jota seines Seins geändert. Der Gute! Ganz Konvention, selbst im Tod dachte er noch an andere, an mich, und vollzog eine Geste, deren Unterlassung ich ihm nur dann hätte vorwerfen können, wenn wir überlebten.
    Da fielen wir aus den Wolken. Unter uns Felder und Ortschaften, ab und zu ein von Wegen beschnittenes Wäldchen.
    »Da ist Lockerbie«, hörte ich Richard sagen.
    Ich sah eine Autobahn, auf der fuhren Autos. »Springt an! Los!«
    »Er kann auf der Autobahn notlanden!«, rief hinter mir erleichtert ein Mann. Keine Ahnung in welcher Sprache. Richards Profil sah nicht so aus, als teile er die Ansicht unseres Hintermanns.
    Derya betete. Vermutlich in ihrer Muttersprache, vermutlich Kurdisch.
    »Jetzt springt schon an, ihr Triebwerke. Das ist euer Job!«, dachte ich oder sagte ich. Die Katastrophe entfaltete sich sehr langsam. Wir flogen ja. Wir ließen die felderreiche Gegend hinter uns. Der Grund wurde grün und wellig. Schwärzliche Häuser versammelten sich zu Dörfern. Gehöfte standen in Bauminseln, vereinzelt Zedern im sehr weitmaschigen Netz von Straßen mit Hecken, Pferde galoppierten auf einer Weide davon.
    »Er will tatsächlich auf der Autobahn landen«, bemerkte Richard verwundert.
    Ich sah ein Schloss sich aus dem Grün erheben, umgeben von finsteren Bäumen, gekrönt von Dutzenden von Kaminröhren. Wir schrammten ein Dorf, ich sah entsetzte Menschen auf der Straße, die nach oben schauten. Auf der Autobahn stockten die Fahrzeuge. Wir glitten schräg darüber hinweg. Aber in die grünen Hügel zu schlittern glich einem Absturz.
    Da wackelte das Flugzeug. Jemand schrie.
    »Was passiert?«, fragte ich.
    »Ich glaube, die Triebwerke laufen wieder, zumindest eines«, sagte Richard.
    Man hörte es nicht, es rauschte und pfiff in der Kabine wie bisher auf dem ganzen Flug auch. Aber ich meinte einen leichten Schub zu spüren. Der Körper reagierte hypersensibel auf jede Bewegung, die Hoffnung machte oder umgekehrt, Angst. Die Autobahn schwenkte unter den Flugzeugleib. Ich sah sie nicht mehr. Und jetzt?
    Der Pilot bellte irgendeinen Befehl über den Kabinenfunk. Eine Stewardess rannte den Gang entlang und rief uns zu: »Köpfe auf die Knie.« Der Pilot nahm sich sogar noch die Zeit zu sagen: »Ladies and Gentlemen, wir werden in wenigen Minuten auf der M 74 aufsetzen. Die Crew und der Kapitän haben versucht, Ihnen einen angenehmen Flug zu bereiten. Sorry, dass es uns nur partiell gelungen ist.«
    Richard lehnte sich gegen mich, um aus dem Fenster zu schauen. Seine Hand, mit der er immer noch meine hielt, war nicht sonderlich angespannt. Auch ich starrte hinaus. Kein Haus war mehr zu sehen, grüne Hügel umgaben uns. Ich dachte noch: Er muss links landen, in England ist doch Linksverkehr. Ein Strommast sauste unter mir vorbei. O Gott! Das

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