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Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Titel: Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Derya weiter.
    »Er erwartet uns um halb zwölf im Institut«, antwortete sie.
    Auch sie hatte sich vorgebeugt, um an Richard vorbeizuschauen. Ihr Blick weitete sich plötzlich. Ich schaute hinter mich. Im Fenster waberte grünliches Licht. Auf lange Flugerfahrung konnte ich nicht zurückgreifen, aber der Nebel draußen sah komisch aus. Von der Spitze der Tragfläche rissen bläuliche Blitze ab. »Richard! Schau mal! Ist das normal?«
    Er beugte sich vor. Selten zeigte er echte Überraschung. Furcht nie. Aber jetzt nahm sein Gesicht mit dem markanten Kinn und den asymmetrischen Augen einen Ausdruck feierlichen Erstaunens an. »Das ist ein Elmsfeuer. So etwas habe ich auch noch nie gesehen!« Und er war oft geflogen. »Eigentlich kommt es nur in Gewitterfronten vor, wenn die Spannung die Luft ionisiert.«
    »Eine Gewitterfront?«, rief Derya von der anderen Seite.
    Ich hatte mir darunter ein kotztütenaffines Auf und Ab vorgestellt. Aber wir flogen ziemlich ruhig. Ein bisschen wie gegen einen Widerstand, aber das war schon die ganze Zeit so. Luft und Wolken waren wohl objektiv ein Widerstand. Mit einem Pling gingen nun die Anschnallzeichen an. Immerhin hatten sie im Cockpit auch etwas bemerkt.
    »Stürzen wir jetzt ab?«
    Richard antwortete nicht. Er sah nicht erfreut aus, eher fasziniert, dabei grüblerisch. Das beruhigte mich nicht.
    Ein Klacken ging durchs Flugzeug. Die Geschäftsreisenden schlossen routiniert die Sicherheitsgurte. Ich hatte meinen nie abgemacht. Cipión zu meinen Füßen versuchte zum wiederholten Mal aus dem Rucksack heraus auf meine Knie zu klettern. Diesmal ließ ich es zu.
    »Halten Sie das für eine gute Idee?«, fragte Derya an Richard vorbei.
    Ich musste das nicht gehört haben. Ohnehin war es eine Party für die Augen. Bläuliche Blitze zündelten nun auch über die Tragfläche. Im Triebwerk, in das ich schräg hineinsehen konnte, leuchtete unter dem Propeller der Kühlung ein blau umrandetes glühend weißes Feuer.
    Dann gab es einen kleinen Ruck. Das Flugzeug korrigierte sich kurz. Aber mein Hirn sprang auf Alarmmodus. Es stellte sich auf Zeitlupe. Mein Physiotherapeut hatte mir mal erklärt, dass wir in einer Gefahrensituation oder bei extremen sportlichen Leistungen tatsächlich die Hirnnerven auf maximalen Input stellen können. Dann verarbeiten wir gleichzeitig ein Hundertfaches an Informationen wie sonst und können in Sekundenbruchteilen komplexe Entscheidungen treffen. Dabei scheint alles wie in Zeitlupe abzulaufen.
    Es roch nach heißer Asche. Nach Elektrizität. Es gab ein zweites kurzes Schwanken, die zweite Autopilotkorrektur, und irgendwas stoppte uns, bremste. Genauer, der Schub war weg. Nein!, dachte ich. Nicht jetzt! Das passt jetzt nicht!
    »Flammabriss«, hörte ich Richard murmeln. »Triebwerke ausgefallen.«
    »Aber …«, sagte ich. Es pfiff und rauschte immer noch, es dröhnte fast.
    »Das ist die Innenturbine, die wir hören, für Luftdruck und Versorgung in der Kabine«, erklärte Richard.
    Das Flugzeug knackte und ächzte. Aber das hatte es vorher auch getan. Und trotzdem war alles anders. Die Haarbüschel über den Lehnen drehten sich hektisch hin und her. Ich spürte die besorgte Unruhe, aber es blieb relativ still.
    »Was ist denn los?«, rief Derya.
    »Wir gleiten«, sagte Richard. »Keine Sorge, eine Boeing 737 kann viele Kilometer weit gleiten.«
    Und dann?, fragte ich mich im Stillen. Von wem muss ich mich jetzt noch schnell verabschieden? Von Sally, die auf Mallorca am Pool saß, von Oma Scheible, für die telefonieren noch ein Staatsakt war? Von Barbara und Maxi und … o Gott … von meiner Mutter! Der würde es nicht gefallen, wenn die Tochter vor ihr starb. Kind, wie kannst du mir das antun!
    Wer zuerst? Wie viel Zeit hatte ich dafür? Was sagte ich? Ich hatte schon mein Handy in der Hand. Aber dann steckte ich es wieder weg. Ich verabschiede mich nicht. Ich habe nicht letzten Herbst den Schuss überlebt, um jetzt zu sterben. Das wäre sinnlos. Jaja, ich weiß, den Sinn suchen immer nur wir, der Zufall hat keinen. Aber es passt jetzt einfach nicht. Ich habe noch was vor. Ich brauche mich noch.
    »Ladies and Gentlemen«, meldete sich nun der Kapitän, »this is the Captain speaking . «
    Wir lauschten atemlos, als werde uns der Mann gleich schulfrei geben und wir dürften in Jubelgeschrei ausbrechen. Ich glaube, er sprach Englisch, aber ich erinnere mich nicht mehr. Niederländisch wird’s wohl nicht gewesen sein.
    »Wir haben ein kleines Problem«,

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