Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
sie wieder: mein Verhältnis zu Richard oder vielmehr seins zu mir. Auf einmal wurde sie gesprächig. »Aus den Nachfragen der Polizei habe ich geschlossen, dass es mit Finleys Flug eine Unstimmigkeit gibt. Als ich gestern die Flüge gebucht habe, habe ich gesehen, dass die Linienflüge aus Edinburgh in Stuttgart nur entweder um 13 Uhr 45 oder um 22 Uhr 10 landen. So wie unser Rückflug morgen …« Sie schluckte.
Auch ich war mir heute nicht sicher, ob ich morgen wieder in ein Flugzeug steigen würde.
»Als ich gegen halb eins Kalteneck verließ, war Rosenfeld noch da. Für den Mittagsflug hätte er vor mir losfahren müssen. Zumal es Stau auf der Autobahn gab. Aber sicher kann Finley nachher Licht ins Dunkel bringen.« Sie strengte ein Lächeln an. »Wann kommt denn endlich der Bus?«
Richard war auch noch nicht wieder da.
Ich stand auf und ging mit Cipión raus eine rauchen und dachte über den Indianer meiner Jugend nach, der sich nach einer Autofahrt vier Stunden an den Straßenrand gesetzt hatte, damit sein Geist in Fußgängergeschwindigkeit nachkommen konnte. Bei mir war’s das ganze Leben, das sich wieder ankoppeln musste. Wer auch immer das angerichtet hat, dachte ich, der weiß jetzt auch, dass wir alle überlebt haben. Quatsch, unterbrach ich mich. Niemand kann eine Aschewolke einem Flugzeug in den Weg schicken. Trotzdem setzte sich in mir das Gefühl fest, dass Richard, Derya und ich ins Visier einer Macht geraten waren, die uns beseitigen wollte. Und dies war der erste Angriff.
22
Wenn ich jetzt in meiner Wohnung auf und ab gehe und ins Diktafon spreche – anfangs habe ich nur geraunt, inzwischen schaffe ich es, in normaler Lautstärke zu reden –, erscheint mir die Bruchlandung als Beginn einer Reihe von Ereignissen, die unsere zivilisierten Gesellschaften an den Rand des ethischen GAU s gebracht haben.
Womöglich kommt es nicht darauf an, dass ich mich an etwas erinnere, was weit zurückliegt, an eine erste Verschwörung mit einem System, das einen Ausschlag ins Unwahrscheinliche erzeugte, sondern dass ich den Moment erkenne, wo ich mich in dasselbe System eingeschwungen habe, mit dem Juri Katzenjacob verschworen war. Dann wäre mein Gedanke »Springt an, ihr blöden Triebwerke!« mein erstes Gefecht mit ihm gewesen. Und ich wüsste, dass ich ihm beikommen kann. Jetzt müsste ich nur noch herausfinden, wie ich ihn ein für alle Mal besiegen könnte.
Eine unmögliche Aufgabe.
23
Die zehn Stock hohen Steinhäuser Edinburghs tauchten grau und gespenstisch vor uns auf. Die Stadt war tonnenschwer und steinern wie Gothic City. Der Himmel hing tief, es regnete.
Der Bus hatte uns ohne Gepäck in die Stadt gebracht. Es bestand auch keine Aussicht, dass wir es heute noch bekommen würden. Deryas erster Gedanke galt darum angemessenem Schuhwerk. Außerdem brauchte sie ein paar Sachen für die Nacht. Richard kaufte sich einen Rasierapparat. Alles andere trug er im Jackett am Leib, Zigaretten, Geld, Telefon, Kreditkarten, Ausweis. Meine Bikerjacke diente demselben Zweck, fehlte nur ein Dreierpack Slips. Davon abgesehen setzte ich darauf, dass es Zahnpaste und Seife im Hotel gab. Aber ich spielte mit dem Gedanken, mir, falls morgen Zeit war, einen Kilt zu kaufen. Den echten nur für den Mann, dessen Saum beim Knien zum Ritterschlag den Boden nicht berührte.
Die Psychologische Fakultät der Universität von Edinburgh lag unweit der Altstadt am mit Kopfstein gepflasterten George Square Nummer 7 einer Grünanlage gegenüber, die ein Zaun mit Speerspitzen umfriedete. Es war halb fünf, als wir das Portal einer klassizistischen Fassade durchschritten und eine Welt betraten, die nach Earl Grey-Tee, Computergebläse und Büchern roch. Prof. Dr. Finley McPierson war ein kamelbeiniger Mensch von Anfang sechzig mit blitzblauen Augen hinter einer dicken Brille, wilden weißen Locken und in einer zu weiten Hose. Er begrüßte uns lachend auf Deutsch.
»Freut mich, dass Sie mich einmal wieder besuchen, Derya. How do you do, Richard. Sie sind der Staatsanwalt? Hoffentlich habe ich nichts verbrochen. Ich bin Finley. Ah, und Lisa heißen Sie? Freut mich. Bitte nehmen Sie Platz. Und der Hund, möchte der vielleicht Wasser?«
Wir installierten uns. Finleys Büro besaß einen Clubsessel und ein Tischchen mit Stühlen. Der Schreibtisch stand am Fenster, das auf Straße und Park hinausging. Nachdem unsere Reiseabenteuer angemessen gewürdigt worden waren, sagte Finley: »So, Sie möchten also die Kalteneck-Liste
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