Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
hätte noch gefehlt, dass wir den gestreift hätten. Die Landschaft kippte von der Draufsicht zum Drinsein.
Eine Sekunde später setzten wir auf. Die Mittelleitplanke raste unter meinem Fenster entlang, der Flügel wippte. Es drückte mich nach vorn. Vielleicht wusste ich es in diesem Moment schon oder erst später: Ein Flugzeug kann auch nur mit Bremsklappen und Bremsbacken bremsen. Wir rasten erst, dann rollten wir. Ich sah das Entsetzen in den Augen der Autofahrer auf der Gegenfahrbahn, die sich aufstauten und die wir in der nächsten Sekunde schon hinter uns gelassen und vergessen hatten. Dann tat es unter dem Fahrwerk einen Schlag, die Maschine ruckte nach rechts, Metall kreischte die Leitplanke entlang, und plötzlich standen wir.
»Sauber«, murmelte Richard.
Die Stewardessen sprangen aus ihren Verstecken, hebelten die Notausgänge auf und winkten uns die Notrutschen hinunter, schneller, als wir überhaupt Angst haben konnten. Unten schickte uns eine Flugbegleiterin weiter. »Run away!«, rief sie. »Laufen Sie!«
Sie selber blieb dort, mit nur noch einem Schuh an den Füßen.
Richard packte Derya an der Hand, die ihre Pumps oben an der Rutsche hatte ausziehen müssen oder verloren hatte. Wir rannten die leere Autobahn entlang, links, darum in Fahrtrichtung, während sich auf der Gegenfahrbahn die Autos stauten. Wenn das Flugzeug explodierte, würde es sie alle wegfegen.
Uns aber auch.
21
Irgendwann hörten wir auf zu rennen. Derya keuchte, Richard nicht. Sie humpelte auf nackten Sohlen, von denen sich Laufmaschen auf den Weg nach oben gemacht hatten. Ihre Handtasche hatte sie gerettet. Auch Cipión war noch bei uns. Ich hatte ihn vermutlich keinen Moment losgelassen. Jetzt setzte ich ihn auf den Asphalt. Er schüttelte sich. Von den Geschäftsleuten hatten einige bereits ihre Handys am Ohr.
Ich guckte zurück. Weit waren wir nicht gekommen. Das Flugzeug lag platt auf dem Bauch quer über der Mittelleitplanke. Der Exodus der Passagiere zog sich in die Länge. Ältere konnten nicht rennen. Auf der anderen Seite der Autobahn waren hinter einem Hügel Hausdächer sichtbar. Eine Treppe führte den Hügel hinauf. Die ersten langbeinigen jungen Männer in grauen Anzügen überstiegen die Mittelleitplanke.
»Wie soll ich da rüberkommen?«, rief Derya. Tja, der Rock. Sie hätte ihre weibliche Würde über Bord werfen und den Rock hochziehen müssen. Lieber appellierte sie an den Kavalier in Richard. Er hob sie hoch, als wolle er sie als Hochzeiter über die Türschwelle tragen. Allerdings stellte die Leitplanke, obwohl sie mir dünner und niedriger vorkam als bei uns, auch für ihn, seiner nicht gerade überragenden Größe wegen, ein Hindernis dar, für das er die Hände gebraucht hätte. Aber er besaß die Kraft, eine zierliche Person wie Derya hinüberzuheben und abzusetzen. Schade. Ich hätte gern Deryas Arsch in Unterwäsche gesehen. Und ich hätte nicht taktvoll weggeguckt.
Richard, ein weiterer Mann und ich halfen allen, die nach und nach kamen, über die Leitplanke. Durch die sich stauenden Autos, die Treppe hinauf, über Zäune und eine Weide gelangten wir in einen Ort hinab. Wir hinkten, humpelten und stolperten ins Zentrum. Da stand ein Hotel, dessen Name uns verriet, dass wir uns in Abington befanden, einer Ansiedlung aus roten und dunkelgrauen Ziegelhäusern mit schwarzen Dächern und weiß gestrichener Fensterumrahmung. Wir waren im schottischen South Lanarkshire im Keil südlich zwischen Glasgow und Edinburgh.
Im Abington Hotel trug man Stühle herbei, schuf auf der Veranda und im Restaurant Platz für rund neunzig Menschen und versorgte uns mit Tee, Gebäck und Marmelade. Es trug viel zu Deryas seelischer Stabilität bei, dass es ihr gelang, gegenüber im Abington General Store ein paar Gummistiefel zu erstehen. Die Nylonstrümpfe zog sie aus, obgleich es ziemlich frisch war.
Es ist erstaunlich, wie wenig sich eine Fluggesellschaft nach einer Bruchlandung um die Passagiere kümmert, wenn sie nicht verletzt sind. Keiner der 92 Reisenden hatte sich schwere Blessuren zugezogen. Das Rote Kreuz versorgte kleine Verletzungen, Schnittwunden an den Füßen und ein paar moderate Schocks. Nur eine Frau musste per Krankentransport weggefahren werden. Alle andern – hauptsächlich die Geschäftsleute – wollten weiter. Da konnte in South Lanarkshire keine Fluggesellschaft zeitnah helfen. Die ganz Schlauen verdingten einen Dorfbewohner und fuhren in Privatwagen ab. Andere stritten sich um Taxis,
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