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Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Titel: Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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begegneten mir im Rückspiegel. »Wenn Sie sich das Lachen verbeißen müssen, ist Magie ohnmächtig. Lachen Sie, Lisa! Das Lachen ist die stärkste Macht des Rationalisten.«
    »Im Märchen ist es die Dummheit«, sagte Richard.
    Derya drehte sich auf dem Vordersitz herum. »Im Märchen?«
    »Ja, im Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen von den Gebrüdern Grimm.«
    »Erzählen Sie, Richard!«, rief Finley.
    Wir fuhren durch grüne Landstriche, in denen fünf verstreute Anwesen einen Ortsnamen besaßen, während Richard ins Grimm’sche verfiel.
    »Ein Vater hatte zwei Söhne, der eine gescheit und arbeitsam, der andere begriffsstutzig und zu nichts zu gebrauchen. Der ältere Sohn aber mochte nicht nachts am Friedhof vorbeigehen, und wenn am Feuer Schauergeschichten erzählt wurden, dann gruselte es ihn. Das fand der Jüngere verwunderlich. ›Immer sagen sie: Es gruselt mir! Es gruselt mir! Mir gruselt’s nicht; das wird wohl auch eine Kunst sein, von der ich nichts verstehe.‹ Als ihn der Vater eines Tages zur Brust nahm, damit er mal was lernte, antwortete er: ›Ich will gern was lernen, ja, wenn es anginge, möchte ich lernen, dass mir’s gruselt, davon verstehe ich noch gar nichts.‹ Der Vater klagte dem Küster sein Leid, und der sagte: ›Steck ihn zu mir, ich hobel den schon ab.‹ Er nahm ihn mit und ließ ihn die Glocke läuten. Dann einmal weckte er ihn um Mitternacht und schickte ihn den Kirchturm hoch an die Glocke. Er selbst, der Küster, verkleidete sich als Gespenst und stellte sich bewegungslos hin, damit der Junge Angst bekäme. Doch der hielt das Gespenst für einen Spitzbuben und warf ihn die Treppe hinunter.«
    Finley lachte. »Ich liebe die Grimms.«
    »Darauf zog der Junge in die Welt hinaus, um das Gruseln zu lernen, damit er auch eine Kunst verstehe, die ihn ernähren könne. Auf der Landstraße traf der Junge einen Mann, der ihm helfen wollte und ihn zum Henkersplatz führte, wo sieben Männer an den Bäumen hingen. Wenn er die Nacht dort verbringe, so werde er das Fürchten schon lernen. Der Junge tat, wie ihm empfohlen. Er machte Feuer und setzte sich. Und als der Wind die Gehängten gegeneinanderstieß, holte er sie runter, weil er dachte, sie frören, und setzte sie ans Feuer. Aber ihre Kleider fingen Feuer. Da wurde der Junge böse und hängte sie wieder auf. Die Nacht schlief er seelenruhig. Am andern Tag klagte er im Wirtshaus sein Leid, dass er das Gruseln nicht lerne. Der Wirt sagte, dazu solle wohl Gelegenheit sein, und erzählte ihm von einem verwünschten Schloss. Zudem habe der König dem, der es wagen wolle, drei Nächte in dem Schloss zu verbringen, seine Tochter versprochen, und die sei die schönste Jungfrau, die die Sonne bescheine. In dem Schloss steckten auch schöne Schätze, die von bösen Geistern bewacht würden. Doch schon viele seien dort hinein, aber noch keiner wieder herausgekommen.
    Da ging der Junge vor den König und erklärte, er wolle drei Nächte in dem Spukschloss verbringen. Dem König tat der nette Junge leid, und er erlaubte ihm, drei Gegenstände mitzunehmen. Der Junge bat um ein Feuer, ein Messer und eine Werkbank. Und so verbrachte er die erste Nacht. In der ersten Nacht erschienen ihm ein paar Unholde und schwarze Katzen. In der zweiten Nacht gab es Geschrei und Gepolter, ein halber Mensch kam durch den Schornstein herabgefallen. Etwas später kam die andere Hälfte, die Stücke fuhren zusammen. Weitere Männer spielten mit neun Totenbeinen und zwei Totenköpfen Kegeln. Der Junge drehte die Totenköpfe auf der Drehbank rund und spielte mit. Um zwölf war der Spuk vorbei und der Junge schlief selig. Der König kam und fragte, ob er sich nicht endlich gegruselt habe. Darauf der Junge: ›Ei was, lustig hab ich mich gemacht!‹«
    »Da hört ihr’s!«, rief Finley und hob den Finger.
    »In der dritten Nacht kamen sechs Männer und trugen einen Sarg herein. Es lag ein Toter darin. Der Junge dachte, er könnte ihn zum Leben erwecken, wenn er ihn am Feuer erwärmte. Zuletzt nahm er ihn sogar mit sich ins Bett. Und tatsächlich wurde der Tote warm und fing an sich zu regen. Allerdings war er nicht dankbar, sondern erklärte, er werde den Jungen jetzt erwürgen. Daraufhin warf der ihn wieder in den Sarg und machte den Deckel zu. Nachdem auch das keinen Erfolg gehabt hatte, kam ein bärtiger Mann. Er sagte: ›Nun sollst du lernen, was Gruseln ist, denn du sollst sterben.‹ – ›Nicht so hastig‹, antwortete der Junge, ›soll ich

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