Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
sterben, so muss ich auch dabei sein.‹«
Finley lachte. »Der macht’s richtig. Ihr habt wirklich lustige Märchen.«
»Der Junge und der Alte stritten eine Weile, wer stärker sei, dann einigten sie sich auf einen Wettkampf. Der Alte führte ihn durch dunkle Gänge zu einem Schmiedefeuer, nahm eine Axt und schlug den Amboss in die Erde. ›Das kann ich besser!‹, sagte der Junge, nahm die Axt und ging zum andern Amboss. Der Alte trat herzu, und wie sein Bart so herabhing, spaltete der Junge den Amboss und klemmte den Bart des Alten hinein. Jetzt sei das Sterben an dem andern, rief der Junge und verprügelte den Alten, bis der um Gnade rief und ihm Reichtümer versprach. Im Keller des Schlosses standen in der Tat drei Kisten voll Gold. Eine davon gehöre dem König, eine den Armen und die dritte ihm. Um zwölf war auch dieser Spuk herum. Das Gruseln hatte der Junge zwar immer noch nicht gelernt, aber er hatte das Schloss erlöst, eine Schatztruhe bekommen und durfte die Tochter des Königs heiraten. Der junge König wurde jedoch nicht recht froh, auch wenn er mit seiner Gemahlin ein vergnügtes Leben führte. ›Wenn mir nur gruselte, wenn mir nur gruselte!‹, seufzte er allenthalben. Das verdross seine Frau. Aber sie hatte ein pfiffiges Kammermädchen, das versprach Abhilfe. Es ging hinaus zum Bach und schöpfte einen Eimer voll Gründlinge. Und nachts, als der junge König schlief, zog seine Gemahlin ihm die Decke weg und goss das kalte Wasser mit den Fischen in sein Bett. Der Junge schreckte hoch, schauderte und sah mit Schrecken, wie die Fische um ihn zappelten. Und endlich wusste er, was Gruseln ist.«
»Wieso endet hier der Spuk um Mitternacht und in anderen Geschichten beginnt er um Mitternacht?«, erkundigte ich mich.
Wieder begegnete ich Finleys Blick im Rückspiegel. »Weil die beiden Stunden um Mitternacht nur bedeuten, dass es sich um eine Zeit handelt, wo die Sonne weit weg ist, auf der anderen Seite der Erde. Das ist ohnehin nie Punkt zwölf Uhr der Fall. Und so haben sich kulturell bedingt unterschiedliche Traditionen herausgebildet.«
Zu Mittag hielten wir am Loch Awe. Ein grauschwarzes Hotelschlösschen mit Dutzenden von Schornsteinen stand am schwarzen See. Viel Zivilisation war nicht zu erkennen. Aber die Bahn von Edinburgh nach Oban hielt hier. Richard und ich schickten Finley und Derya vor ins Restaurant, zündeten uns Zigaretten an und wanderten mit Cipión die Straße entlang. Urlaub war ein Abenteuer, für das Richard und mir der Sinn abging. Cipión sowieso, denn als Hund unterlag er dem Stress, ein fremdes Revier markieren zu müssen, in das er nie wieder zurückkehren würde.
»Gehe ich recht in der Annahme«, fragte ich, sobald wir allein waren, »dass du mir nicht sagen wirst, was dein Blick in die Kalteneck-Liste für Erkenntnisse gebracht hat?«
»Da gehst du recht.«
»Gibt es überhaupt Erkenntnisse?«
»Das kann ich dir auch nicht sagen.«
»Hat sich unsere Reise gelohnt?«
»Eine Reise lohnt sich immer.«
»Findest du?«
»Findest du es nicht auch merkwürdig«, sagte er, »dass Finley just heute eine E -Mail von Héctor bekommen hat?«
»Indeed! Sehr merkwürdig.«
»Und ausgerechnet auf Iona soll sich der Kerl aufhalten.«
»Und ausgerechnet heute verhindert ein Internetzusammenbruch unsern Rückflug!«
»Der ist real. Ich habe vorhin in Finleys Büro Radio gehört. Das ist was Größeres. Halb Großbritannien ist betroffen. Die Rede ist von Überlastung und dass Fachleute schon lange davor warnen, dass das Internet die Datenmengen nicht mehr bewältigt. Mit schuld ist wohl eine Meldung, in der angekündigt wird, dass das Internet heute zusammenbricht. Sie verstopft alles.«
Ich erinnerte mich plötzlich an das Twitter-Gewitter auf meinem Handy. »Ja. Ich habe gestern auch Dutzende von Twitter-Nachrichten bekommen, in denen einer den Zusammenbruch des Internets vorhersagte.«
Richard zog die Brauen hoch.
»Ich hatte allein über neunzig.« Und war nicht in dem Tweet ein Shinobi vorgekommen? Das Wort, das Wagner gestern auch erwähnt hatte. »In den Meldungen nannte der Prophet sich Shinobi. Und Wagner hat gesagt, es gäbe einen. Shinobis sind wie Ninjas japanische Untergrundkämpfer.«
»Ich weiß, Lisa. Die Verborgenen. Wir romantisieren sie. Im Grunde aber waren sie Spione und Meuchelmörder.«
»Er hat übrigens auch ein Erdbeben angekündigt.«
»So? Nun, die erste Meldung stammte wohl vom Twitter-Account der New York Times. Die hat aber dementiert
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