Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
uns zu retten. Nur Cipión zappelte. Er wollte zu seinem geliebten Großmeister hinüber, ihn animieren, stupsen, lecken, ihn trösten.
Schon hörte ich das Wasser in die Kliffs klatschen. Der Mond hatte sich gerade mal wieder komplett verdunkelt. Die Lichter von Fionnphort waren hinter irgendetwas verschwunden, was man gerade auch nicht sah. Und von Iona her näherte sich das Polizeiboot. Ich konnte in der Bordbeleuchtung Leute erkennen, Männer in Uniformen. Der Weg in den Hafen war uns damit versperrt.
»Ihr könnt alle schwimmen?«, fragte Finley.
In diesem Moment huschten die Wolken vom Mond, und vor uns tauchte etwas ganz Schwarzes auf. Derya schrie: »Nach rechts, nach rechts!«
Richard, der mit dem Rücken zum Bug saß, musste ihr »rechts« in links übersetzen, bremste mit dem linken Ruder und legte sich ins rechte. Ein Schwall Wasser ergoss sich über mich. Aber das war jetzt schon egal.
»Ganz ruhig, wir schaffen es«, sagte ich.
Richard reagierte reflexhaft, nahm Spannung und Tempo raus, schaute sich sogar um. Das Motorboot brauste an uns vorbei. Sekunden später erfasste uns die Bugwelle. Wir knallten gegen einen Felsen, schlingerten weg, prallten gegen einen anderen Stein, unterm Kiel knirschte es, eine Planke brach, Wasser sprudelte empor. Wir sanken.
Derya war als Erste über Bord gegangen und stand bis zu den Hüften im Wasser. Finley sprang hinaus, Cipión rettete sein Leben mit einem Notsprung und kam mir abhanden. Nur Richard saß starr mit übersäuerten Muskeln. Kaum dass er die Riemen loslassen konnte. Er keuchte oder, wie wir in Schwaben sagen, er kotzte. Nur langsam kam Bewegung in ihn. Eine Welle warf das Boot in die Klippen, und es zerfiel. Meine Füße fanden Grund. Das Wasser ging mir bis zu den Oberschenkeln.
Cipión schwamm schnaufend um sein Leben. Ich fischte ihn aus dem Wasser und watete an Land. Derya hatte schon das Ufer erreicht, das an dieser Stelle nicht steil war. Große Kiesel bildeten eine kleine Bucht. Richard kam auch. Er keuchte noch immer, er wankte, er rutschte von einem der runden Kiesel ab und fiel auf Hände und Knie.
Finley meinte, ihm aufhelfen zu müssen, was bei achtzig Kilo angespannter Muskelmasse nicht so leicht war, denn auch Finleys große Hand reichte nicht, um Richards Oberarm zu umfassen. Er rutschte ebenfalls ab und hatte damit zu tun, sich selbst auf den Kieseln auszubalancieren. Dafür nahm Richard in alter Vertrauensseligkeit die Möglichkeit in Anspruch, sich in meine Lederjacke zu krallen und hochzuziehen.
Vom Boot waren in den schwarzen Wellen zwischen den Klippen nur noch ein paar Planken zu erkennen. Wäre es mitten auf dem Sund zerfallen und untergegangen, wären wir in ernsthafte Nöte geraten. Sie waren auch so schon nicht schlecht.
Mindestens bis zu den Hüften hinauf patschnass standen wir im Wind und lauschten, was jenseits der Felsnase am Pier passierte. Ein Kuriosum war, dass es Derya gelungen war, das ihr von Richard anvertraute Jackett zu retten. Es war wohl das einzige Kleidungsstück, das nicht tropfte.
Vom Hafen jenseits der Anhöhe erklang das Geräusch eines startenden Autos. Scheinwerfer geisterten den Hang empor und verschwanden ins Dorf.
»Und jetzt?«, fragte Finley.
»Jetzt schauen wir, dass wir zu deinem Auto kommen«, antwortete ich.
Langsam kraxelten wir über die Klippen in den Hang. Das Haus, das oben auf der Landzunge stand, war finster. Fähre, Anleger, Straße und das kleine Gebäude mit dem hochtrabenden Namen Ferry Terminal lagen auf der anderen Seite verlassen im Schein der Straßenlaternen. Nur wenige Autos standen auf den Parkplätzen am Rand der Straße, darunter der schwarze Van und zwei Plätze weiter Finleys Rover.
»Wo hab ich denn …«, Finley begann hektisch in seinen Taschen zu suchen, »… den Autoschlüssel?«
»Oh, nein!«
Richard suchte ebenfalls in den Taschen seines Jacketts, das er sich nicht wieder übergezogen hatte, aber nicht nach einem Schlüssel, sondern nach den Zigaretten. Beim Versuch, mit noch immer vor Überanstrengung zitternden Händen eine Zigarette herauszuklopfen, verstreute er die drei, die noch drin gewesen waren. Ich zog meine aus der Brusttasche meiner Lederjacke, die wie durch ein Wunder nicht nass geworden waren, und half ihm aus.
Und da endlich sagte er wieder ein Wort: »Danke.«
32
Kurzum: Finley fand seinen Autoschlüssel nicht. Er hatte ihn im Hotel auf dem Nachttisch liegen lassen.
Was tun wir jetzt? Die Frage schwieg sich bei uns im Kreis herum.
Weitere Kostenlose Bücher