Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
kreischten, was die ungeheure Stille noch fühlbarer machte. Ich durchquerte den Garten und trat vors Tor auf den Grünstreifen. Fionnphort war leicht zu überblicken. Es genügte, die Straße empor oder hinab zu schauen. Gegenüber war, wie man bei Tageslicht besser sah, kein Haus, aber grüne Landschaft mit Hügeln.
Ich kramte nach meinen Zigaretten und fand dabei die Karte, die mir die kleine Journalistin gestern Nacht bei meinem Angriff auf die Kamera ihres Gefährten hingehalten und die ich geschnappt hatte.
Emma Reid, Edinburgh Evening News … Tausend Pfund hatte sie mir für unsere Story geboten. Nur, was war es eigentlich für eine? Das Boot, davon war ich mittlerweile überzeugt, hatte nur für uns im Marmorsteinbruch gelegen. Wir hatten es nehmen und damit im Sund untergehen sollen. Unseren sicheren Tod hatte es zwar nicht bedeutet, genauso wenig wie hundertprozentig vorherzusehen gewesen war, dass wir bis dorthin kommen und es besteigen würden, aber harmlos war es nicht. Wer dieses Abenteuer für uns geplant hatte – angefangen bei der fingierten Mail von Héctor Quicio –, musste uns gut kennen. Zumindest einen von uns. Wer hatte eigentlich gestern Abend entschieden? Wer führte unter uns vieren? Der schweigende Richard, die abernde Derya, der lustige Finley oder ich mit meiner Neigung zum Drama, sobald ich mich minderwertig fühlte? Von den Zeitungen übergangen, von Richard betrogen, von Derya verspottet, vom kamelbeinigen Finley angeflirtet. Ich reagierte, aber ich führte nicht.
Doch wenn ich es mir recht überlegte, war es Finley gewesen, der uns über die Insel geführt hatte. Er kannte sie. Er war mit Rosenfeld am Steinbruch gewesen. Und er hatte den Vorschlag gemacht, an der Küste ein Boot zu suchen. Aber hatte er ersaufen wollen? Nein. »Könnt ihr schwimmen?«, hatte er uns kurz vor dem Schiffbruch gefragt. Wetten, dass er selbst ein guter Schwimmer war, britischer Jugendmeister, Kanaldurchschwimmer. Das haben wir gleich. Ich zog mein Handy, überlegte kurz und ohne wirklich irgendetwas Zusammenhängendes zu denken, und aktivierte es. Wer weiß, ob es überhaupt noch funktionierte.
Smartphones brauchen eine Weile, bis sie sich sortiert haben. Ich blickte hoch.
Da kam Richard die Straße herunter.
Ich gebe zu, mein erster Impuls war, ihn nicht sehen, ihm die Schulter zeigen, ein Warnschild auf den Rücken heften. Auf ein Gespräch am Morgen bin ich grundsätzlich nicht vorbereitet. Er war Frühaufsteher, hatte mit Cipión einen Spaziergang gemacht und sich dabei vermutlich genau zurechtgelegt, was er mir mitzuteilen hatte, was zu erklären er für notwendig hielt und worauf wir uns als zwei erwachsene Menschen verständigen würden.
Er hielt einen Friedensabstand von zwei Metern. Der Wind hatte eine Strähne aus seinem Haar über seine Stirn gefegt. Seine Augen leuchteten bernsteinhell in der Sonne, sein Gesicht war wach, wenn auch unrasiert, auf seinen Lippen lag nicht ein Hauch von Scham, Gewissen oder Ängstlichkeit. Er war verliebt, der Tropf, und glaubte sich unverletzbar. Mir kam die Galle.
Lieber nicht. Wer weiß, was ich sage! Ich wandte mich dann doch ab.
»Moment, warte, Lisa«, sagte er.
Ich stoppte und drehte mich zurück. »Wenn ich dir einen Rat geben darf, Richard, dann lass es. Sag nichts. Vor allem sag es nicht in hypotaktischen Sätzen. Halt einfach die Klappe und geh mir aus den Augen.«
»Lisa!« Er warf einen raschen Blick hinüber zu Heathers steilem Haus, das nicht in Hörweite stand, trat einen Schritt näher und hob die Hände. »Bitte! Ich verstehe, dass du wütend bist, aber schlag mich nicht.«
Ich schnaubte. »Selten so gelacht!«
Er machte noch einen halben Schritt und senkte die Stimme. »Bitte, Lisa, lass dir was erklären.«
»Spar dir deine Erklärungen. Sie interessieren mich nicht. Wir sind geschiedene Leute, klar? Ich kündige dir hiermit meine Freundschaft.«
»Lisa, es ist nicht so, wie du …«
Ich lachte ihm ordentlich schrill dazwischen. »Hormone machen doch granatenblöd. Um diesen Satz zu sprechen, holst du so tief Luft? Ich hätte dich für intelligenter gehalten.«
»Hättest du oder hast du?«
Ganz ruhig, ermahnte ich mich. »Mein Lieber, heb dir die Grammatik fürs Gericht auf. Die du dort vernichten willst, sind dir ebenbürtig. Ich kann da nicht mithalten, weißt du. Ich habe kein Abitur und trage keine Spitzenunterwäsche!«
Er sah erschrocken aus. »Entschuldige, Lisa. Aber bitte, gib mir eine Minute.«
»Ha!« Ich
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