Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
Derya. Vielleicht hielten sie Händchen, vielleicht leckte er seine Wunden und sie tupfte mit einem Taschentuch.
Ich schaute mich lieber nicht um.
Die Straße endete an einem Weidentor. Dahinter ging es grasweich weiter. »Wir sollten zum Strand hinuntergehen«, sagte Finley. »Da gibt es Buchten. Vielleicht finden wir ein Boot.«
Ein vernünftiger Vorschlag.
»Wir müssen nur aufpassen. Hier gibt es irgendwo ein Moor. Bleiben wir also auf dem Pfad.«
Mir war plötzlich ganz schwach auf den Beinen. Ohne Zweifel der Schock. Was hatte ich nur getan! Ich wollte mich umdrehen, egal ob jetzt der richtige Zeitpunkt war, meine persönlichen Angelegenheiten zu klären.
Da, plötzlich, ein lüsternes Schnaufen.
Derya japste und drängte sich an Richard.
Vor uns standen unvermittelt mit langen Hörnern und glänzenden Nasen ein halbes Dutzend zottige Rinder.
»Sie züchten hier Schottische Hochlandrinder, und zwar Stiere«, sagte Finley.
»Stiere!«, rief Derya leise, aber entsetzt.
Cipión erinnerte sich wie ich an die große Rinderherde von Balingen und stellte die Rute. Viecher sehen im Dunkeln mehr als wir. Und sie finden sich gegenseitig interessanter als uns Menschen. Die jungen Bullen fixierten den Hund, nicht uns.
»Ganz ruhig weitergehen«, sagte ich. »Dann tun sie uns nichts.«
»Hoffentlich wissen die das auch«, bemerkte Finley und lachte leise.
Das nächste Hindernis tauchte in Gestalt eines Steilhangs vor uns auf, an dessen Fuß der Pfad endete. Links und rechts waren rostige Stacheldrahtzäune gezogen. Was dahinter krautete und sumpfte, war nicht auszumachen.
»Da muss es einen Weg geben«, sagte Finley.
Das hätte Richard vermutlich bestätigen oder verneinen können, denn er hatte mehrmals den Inselplan vor Augen gehabt, aber er sagte nichts. Finley zog seine kleine LED -Lampe aus der Tasche und funzelte den erdigen Abbruch ab. »Da kommen wir rauf.«
Derya widersprach nicht.
Finley probierte es als Erster. Mit seinen langen Beinen schaffte er die erdigen Stufen durchaus. Ich setzte Cipión an die Wand, hielt meine Hand an seinem Nacken und kletterte, während er sich tapfer hochkämpfte. Dann kamen Derya und Richard, sie voran, er dicht hinter ihr, sie haltend und dirigierend.
Und weiter ging es über eine weite felsige Anhöhe Richtung Süden. Plötzlich funkelten auch Sterne. Der Mond streute sein silbriges Licht über den kurzen Rest der Insel. Man konnte auf drei Seiten das Meer ahnen, manchmal sehen. Am Horizont standen die Positionsleuchten von Schiffen und drüben auf Mull glitzerten spärlich die Lichter von Fionnphort. Der Wind war frisch. Und ich hasste es. Mösenfurz! Wo war ich reingeraten? Wie hatte es Richard geschafft, dass ich mich jetzt schuldig und elend fühlte, obwohl er mit einer anderen herummachte? Wie kriegen die Männer das nur immer wieder hin, dass wir diejenigen sind, die ungerecht werden?
Und wer steckte hinter den gezielten Falschmeldungen? Wer hatte ein Interesse daran, Derya und Finley totzusprechen und Richard zum Outlaw zu erklären? (Und warum spielte ich dabei keine Rolle? Grummel!) Wenn es nicht völlig abwegig gewesen wäre, hätte ich den Beinahe-Absturz als ersten Anschlag auf uns – vielmehr Derya und Richard – deuten können. Falls nämlich – und diesmal dachte ich es bewusst und langsam – Rosenfeld wirklich den einen entdeckt hatte, der eine Quantenverschwörung zwischen einer Aschewolke und einem Flugzeug produzieren konnte. Dann wäre ich es gewesen, die den Erfolg vereitelt und die psychokinetische Verbindung mit meinem unbedingten Überlebenswillen im letzten Moment durchtrennt hatte. So dass die Motoren noch einmal angesprungen waren und uns eine ordentliche Notlandung ermöglicht hatten.
Erst jetzt, mitten in der Nacht, leuchtete mir unmittelbar ein, warum die Identität eines echten Parapsychopathen unbedingt geheim gehalten werden musste. Weil eine solche Macht benutzt werden wollte. Wozu auch immer. Aber war Juri Katzenjacob wirklich derjenige? Er saß im Gefängnis, er befand sich nicht in den Händen einer Geheimorganisation mit Weltmachtphantasien. Oder dachte ich das nur? War er längst geflohen, ausgetauscht, entführt, und niemand hatte es gemerkt oder zumindest öffentlich mitgeteilt? Einen Befreiungsversuch hatte es ja bereits gegeben.
Wir waren eine gute Stunde unterwegs, bis wir endlich über Erde und Geröll ans Ufer gelangten. Es war eine steinige Küste mit kleinen Buchten, in denen sich die heranrollenden
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