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Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Titel: Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Wellen schäumend verfingen. Boote waren hier eigentlich nicht zu erwarten. Wir stiegen die Wasserkante entlang über Felsen und Geröll und gelangten in eine regelrechte Schlucht. Hier war der Stein zackig und überraschend hell.
    »Der Marmorsteinbruch!«, rief Finley. »Der Altar in der Abbey ist auch aus grünem Iona-Marmor.«
    Mit einem Mal fiel es mir ein: der kristalline, von grünen Adern durchzogene Stein in Rosenfelds Schreibtisch, den ich vor 48 Stunden als Marmor identifiziert hatte. Der war dann also von hier.
    »Warst du mit Rosenfeld mal hier, Finley?«, fragte ich.
    »Ja. Aber das ist schon einige Jahre her«, antwortete er. »Schaut mal, ist das nicht ein Boot, was da liegt?«

31
    Es war ganz aufs Land gezogen, vielleicht zweieinhalb Meter lang und besaß je eine Sitzbank vorn und hinten und eine Querbank für den Ruderer. Die Riemen lagen im Boot. Als hätte man es für uns hergerichtet.
    Finley leuchtete hinein. »Sieht ordentlich aus. Aber ob es dicht ist, sehen wir erst im Wasser.«
    »Passen wir denn alle vier hinein? Oder saufen wir ab?«, fragte ich.
    »Ich habe keine Ahnung«, sagte Finley gut gelaunt. »Ich bin nicht sehr shippy. Ich bin eine Landratte.«
    Derya hatte sich auf einen größeren Stein gesetzt und sagte nichts. Falls sie die unausgesprochene Idee unserer Flucht im Ruderboot infrage stellte, so wagte sie jedenfalls nicht, es laut zu tun.
    Finley deutete ins Dunkel die Küste entlang und verkündete: »Da rüber geht’s nach Irland. Da ist auch irgendwo die Bucht, wo Columba mit seinen zwölf Gefährten gelandet ist.«
    Richard ruckelte am Boot und stellte fest, dass wir fähig sein würden, es ins Wasser zu schieben. Dann begutachtete er die Planken und die Riemen.
    »Schaffen wir das?«, fragte Finley.
    »Nicht nach Irland«, antwortete Richard. »Aber bis Mull sind es schätzungsweise zwei Kilometer. Das können wir in einer halben Stunde schaffen.«
    Das machte Derya so viel Hoffnung, dass sie aufstand.
    Also rein. Es schien ausgemacht, dass Richard rudern würde. Wozu tat er so was nur zum Spaß im Fitnessstudio? Außerdem war klar, dass einer von uns nasse Füße bekommen musste beim Abstoßen des Boots vom Ufer. Das war Finley, denn das britische Volk einschließlich der Schotten war gegen Kälte um ein Vielfaches unempfindlicher als wir heizungsverwöhnten Kontinentler. Richard reichte Derya die Hand und half ihr auf den Sitzplatz am Bug. Er selbst setzte sich auf die Ruderbank, zog das Jackett aus, gab es Derya und krempelte sich die Hemdsärmel hoch. Ich faltete mich zu Richards Füßen mit Cipión im Arm in die Planken, damit Finley, der uns ins Wasser schob und dann seine langen Beine mit einem Schwall Wasser ins Boot schwang, auf der Heckbank Platz nehmen konnte.
    Das Wasser hob uns auf seine Schaukel. Richard begann zu ziehen. Sein erster Ruderschlag bescherte mir einen Schwapp Wasser in den Kragen. Sein Fuß, der ein Widerlager suchte, stupfte mich seitlich ins Gesäß. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, seine Knie gerade eben so. Ich spürte, dass er die Hand am Riemen über meinen Kopf führte, um das Blatt einzutauchen. Ich hörte das Klatschen der Wellen gegen den Bug und fühlte die Stöße der Wellen. Wasser gluckerte unterm Kiel, die Dollen knirschten, Richard atmete aus, wenn er zog. Und wenn die Wolken Mond und Sterne freigaben, sah ich Finleys Gestalt riesenhaft auf der Heckbank schaukeln. Er klammerte sich mit beiden Händen fest. Mit seinen nassen Hosen hatte er mich schon ein paarmal berührt und mit seinen Füßen hatte er mich getreten.
    Cipión hechelte in meinen Armen. Er schnüffelte und schaute mit angespannten Muskeln um sich. Seine hektische Biologie fusionierte mit meiner. Eine Schnapsidee war das. Wie hatte es dazu kommen können, dass drei gebildete Menschen reiferen Alters sich dem Lisa-Nerz-System von fight or flight unterwarfen und in einer Nussschale der See anvertrauten, um vor einem Phantom zu fliehen? Weder Internet noch Zeitungen waren Realität. Mit Ausweisen und biologischer Präsenz konnten wir unsere Lebendigkeit belegen und beweisen, dass wir weder Hochstapler noch polizeilich gesuchte Mörder waren. Wenn es sich tatsächlich um Polizei gehandelt hatte, die in zwei Booten über den Sund gekommen war, dann hätte sich – da hatten Finley und Derya einfach recht – alles sofort aufgeklärt und das Phantom einer geheimnisvollen Macht, die uns totzauberte, in Wohlgefallen aufgelöst.
    Hatte ich schon einmal darüber

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