Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
nachgedacht, was für komplexe Verhältnisse ich nicht erklärte, wenn ich »einfach« sagte? Konnten Derya und Finley einfach recht haben? In dieser Nacht jedenfalls nicht. Denn Richard hatte mich verstoßen, und ich kämpfte um etwas anderes als unsere Rettung. Nämlich um die Kontrolle über die Geschichte. Normalerweise hielt Richard mich mit einem »Unsinn, Lisa!« davon ab, andere in meine Verfolgungswahnvorstellungen hineinzureißen. Aber diesmal hatte er es nicht getan.
Was hatte ihn davon abgehalten? Deryas dunkle Augen, ihr schönes Lächeln, das zierliche Figürchen, Eleganz und Intelligenz? Hatte sie vor zwei Tagen im Institut auf Burg Kalteneck mit einem Handschlag in dem reservierten Geheimniskrämer die Lust zu Weltreise und Heldentum geweckt? Und nun ruderte er uns aus der Bredouille, so wie er uns gestern aus den Gewölben gehauen hatte, sich selbst befreiend aus der Stuttgarter Kesselenge und der in ihrer Originalität und Gewagtheit schon lang erstarrten Beziehung zu mir.
Nein, es hatte früher angefangen, etwas war bereits anders gewesen, bevor Derya ihn anrief, bevor ihrer beider Blicke ineinandertauchten. Er hatte mich in die Staatsanwaltschaft gebeten und mir seine Unsicherheit offenbart, ob es da nicht doch etwas gebe, was Juri Katzenjacob Macht verlieh. Womöglich hatte die von einem Lichtblitz und Scherben beendete Séance im Stehen auf Schloss Monrepos seinen Verstand um ein paar Grad aus der Peilung gerückt. Auch wenn er sich als Meister im Wegdiskutieren erwies, hatte sich irgendwo in seinen geistigen Tiefen der Spuk festgesetzt. Aber schon vor Gesine Meisners Geburtstagsfeier hatte er angefangen, sich mit dem Kalteneck-Fall zu beschäftigen. Und zwar mit der Edmund-Gurney-Stiftung und ihrem Vorsitzenden Oiger Groschenkamp. Womöglich war ich gar nicht dabei gewesen, als sich in ihm vollzog, was ihn nun zum Teil der Kalteneck-Verschwörung machte.
Bald waren wir so weit in den Iona-Sund hinausgerudert, dass ich knapp über der Reling die Lichter von Baile Mór sehen konnte. Wenn ich über meine Schulter guckte, sah ich die Lichter von Fionnphort ungefähr ebenso weit entfernt auf und ab schaukeln.
Beunruhigend war allerdings, dass mein Hintern allmählich nass wurde. Wir zogen Wasser. Ich versuchte abzuschätzen, wie schnell es ging, und sagte erst einmal nichts. Beunruhigend war nämlich auch, dass sich auf dem Pier von Baile Mór etwas tat. Dunkle Gestalten liefen den Anleger herab. Die Maschinen der Motorboote starteten. Ein Autoscheinwerfer kroch die Straße entlang, die wir vor zwei Stunden aus dem Ort nach Süden hinausmarschiert waren. Vielleicht hatten die Reporter der Edinburgh Evening News der Polizei den Tipp gegeben.
»Sie suchen uns«, sagte ich.
Richard hatte die Schlagzahl bereits erhöht.
Finley drehte sich auf seinem Sitz um, und das Boot schaukelte heftig. »Oh, sorry!«
Richards Ruder verpasste erneut den richtigen Winkel und schaufelte mir einen Schwall Wasser über meinen Hinterkopf in den Kragen.
Cipión schüttelte sich unwillig, dass die Schlappohren knallten.
Das erste Motorboot legte ab. Auf Deck ging ein Scheinwerfer an, der zwar auch übers Wasser glitt, aber hauptsächlich das Ufer absuchte. Das Boot fuhr langsam Richtung Südspitze.
Kaltes Wasser schwappte mir zwischen die Beine. »Und das Boot ist leck!«, rief ich.
Richard hatte es ebenfalls notiert. Seine Füße standen längst bis zum Knöchel im Wasser. Das edle italienische Schuhwerk war hin. Er ruderte, was das Zeug hielt und sein unbedingter Siegeswille hergab.
Unterdessen startete das zweite Boot im Hafen von Baile Mór. Es stach in See und hielt direkt auf uns zu, genauer: auf den Hafen von Fionnphort, dessen spärliche Lichter nur sehr langsam näher kamen.
Am Pier lag die Fähre. Das konnte ich sehen. Auch die hellen Schaumränder der Wellen, die sich zwischen den Felsen von Mull zerschlugen.
Vielleicht würden wir es vor dem Motorboot schaffen, falls wir nicht vorher absoffen. Auch Derya hatte nasse Füße bekommen und die Beine hochgezogen. Mir reichte das Wasser inzwischen bis zum Gürtel. Cipión kletterte an mir empor. Am liebsten hätte er sich wie ein Papagei auf meine Schulter gesetzt.
Richard ruderte und keuchte. Endlich mal. Aber es war furchtbar, wenn man einen schaffen lassen musste und nichts tun konnte, um ihm zu helfen oder das Ganze zu beschleunigen. Drei Menschen, die den Atem anhielten und ganz still saßen, und einer, der sich die Seele aus dem Leib ruderte, um
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