Totenstimmung
Schrievers stand der Schweiß auf der Stirn.
»Spinner.« Der Archivar hielt den beiden Kollegen eine Kopie hin. »Hier: Froia arme! Das ist Vandalisch. ›Froia arme!‹ heißt: ›Herr, erbarme dich!‹ Das muss man sich mal vorstellen: Der einzige vollständig erhaltene Satz eines untergegangenen Volkes! Das letzte Zeugnis des Glaubens der Vandalen. Zwei Wörter! Das habe ich mir von einem Wissenschaftler der Uni Düsseldorf bestätigen lassen.«
»Du bist ja völlig von der Rolle.« Frank schmunzelte. »Setz dich erst mal.«
Schrievers ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Die Vandalen sind längst ausgestorben, und trotzdem gibt es noch dieses Zeugnis ihrer Existenz. Unglaublich.«
So etwas konnte auch nur aus dem Mund eines Archivars kommen, dachte Frank. »Und was sagen uns die Vandalen nun?«
Schrievers wischte sich mit seinem groß karierten Taschentuch über die Stirn. »Keine Ahnung. Das ist euer Job. Unser Mann muss belesen sein, jemand, der nicht den ganzen Tag vor der Glotze hockt. Er muss sich in Geschichte auskennen, seinen ganz eigenen Blick auf unsere Welt haben. Und«, Schrievers sah Ecki an, der sich Stichworte gemacht hatte, »unser Mann muss große Probleme mit sich und seinem Leben haben. Dieser Zettel ist ein Hilfeschrei.«
»So was Ähnliches hat Viola auch gemeint.«
Der Archivar wollte etwas sagen, besann sich dann aber. Viola Kaumanns war ein ganz eigenes Thema, das er nicht ausgerechnet jetzt ansprechen wollte.
»Er lebt in dieser Stadt und hat Zugang zu Behinderten. Wir haben alle Behinderteneinrichtungen im Umkreis von hundert Kilometern überprüft. Niemand ist verschwunden, keiner der Betreuer hat dunkle Flecken auf seiner Weste. Bis auf zwei Ausnahmen, aber die sind längst aus dem Verkehr gezogen und sitzen ihre Strafen ab.«
»Und die Kulturschickeria?«
»Wie willst du das anstellen? Du kannst doch nicht jeden Professor, Lehrer, Galeristen, Künstler beschatten.«
»Vor allem Galeristen«, knurrte Ecki.
»Du hast eben keinen Sinn für Kunst.« Frank wusste, welchen Galeristen Ecki meinte. Der Gladbacher war längst wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt.
»Wie auch immer, der Zettel bleibt mystisch bis mysteriös«, dozierte Schrievers und fixierte dabei Ecki.
»Willst du eine Lakritzschnecke?« Ecki wusste, was Schrievers wollte, und zog seine Schreibtischschublade auf.
»Nee, lass man.« Das klang nicht sehr überzeugend.
Ecki warf Schrievers eine Schnecke zu und lächelte dabei unschuldig. »Du musst wissen, dass da viele Kalorien drinstecken.«
Schrievers ließ die eingepackte Lakritzschnecke an seinem Bauch abprallen, ohne sie zu fangen. »Ich habe das nicht nötig, mich von dir so behandeln zu lassen. Ich mache eine Diät, na und? Dafür muss ich mich nicht rechtfertigen und auch nicht dafür, dass ich auch mal eine Süßigkeit zwischendurch nasche. Ach was, was rede ich da? Ich muss mich vor euch doch nicht erklären.« Er stand auf und faltete die Kopie mit dem frommen Spruch.
Frank schüttelte den Kopf. »Es stimmt also doch, Abnehmen macht schlechte Laune. Bleib doch sitzen.«
»Ich habe zu tun.«
Schrievers klang wie eine zickige Gouvernante, fand Ecki und klappte sein Notizbuch zu. Der Tag konnte unangenehm enden, wenn Schrievers sich ungerecht behandelt fühlte.
»Was ist denn hier los? Zickenalarm im Männerpuff?« Rüdiger Bittner hatte den Kopf durch die Tür gesteckt.
»Lass deine Witze. Was gibt’s?«
Noch bevor Frank zu Ende gesprochen hatte, flog ein dünner Schnellhefter auf seinen Schreibtisch.
»Nie mehr steige ich in so einen scheiß Güllekeller. Nie mehr werde ich diese stinkenden Klamotten anpacken. Das ist ja widerlich.« Bittner verschränkte die Arme vor der Brust. In Lederhose und T - S hirt sah er eher aus wie das Mitglied einer Furcht einflößenden Motorradgang und nicht wie der Experte von Erkennungsdienst und KTU .
»Schon gut, Bittner. Was hast du für uns?«
»Lest den Bericht, dann wisst ihr’s.«
»Die Kurzfassung, Bittner.«
»Auch der Junge aus der Grube hatte neue Klamotten an. Die Mundharmonika war nicht neu und hat Aussetzer im sechsten und neunten Kanal.«
»Igitt, du hast sie ausprobiert?«
Bittner fuhr ungerührt fort. »Du wolltest die Kurzfassung? Zum Zahnstatus gibt’s wenig zu sagen. Zwei Füllungen, eine Brücke, keine besonders gelungene Arbeit.«
»Keine Etiketten in der Kleidung?«
»Sauber rausgetrennt.« Rüdiger Bittner schüttelte den Kopf. »Wir werden sie trotzdem
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