Totenstimmung
haben? Was mag derjenige gedacht, geredet haben? Hat er überhaupt einen Gedanken daran verschwendet, worauf er sitzt? Welches Kind mag den Stuhl als seine Insel im brausenden Meer der Küche empfunden haben oder als Berg, den es zu besteigen galt? Oder wo mag der Stuhl gestanden haben, als im Krieg die Bomben fielen? Haben sich auf seiner Lackierung die Flammen der brennenden Nachbarhäuser gespiegelt? Wurde er zur Seite gestoßen, als der Luftalarm seinen Besitzer in den Keller trieb? Und warum ist er am Ende auf dem Sperrmüll gelandet?«
Lisa legte den Kopf leicht schief und betrachtete ihr Fundstück. »So habe ich noch nie über einen Stuhl nachgedacht. Für mich war das immer nur Holz.«
»Ich weiß. Das machen auch nur wenige Menschen. Wo werden Sie ihn hinstellen?«
Sie seufzte. »Nun ja, es ist ja ein Einzelstück. Aber er passt sicher ins Schlafzimmer, als Ablage. Oder in den Flur. Ich kann ihn mir auch am Küchentisch vorstellen. Schade, dass es nur einer ist. Wären es sechs, würde ich die jetzigen Küchenstühle ausmustern. Das wollte ich eigentlich schon längst.«
Jennes’ Gesicht hellte sich auf. »Vielleicht kann ich Ihnen da helfen. Ich habe in meinem Lager einige Stühle, die zu Ihrem passen würden.« Er drehte Lisas Stuhl noch einmal hin und her. »Wenn ich es recht bedenke, würden sie sogar sehr gut passen. Wollen Sie sie sich einmal ansehen? Es ist nicht weit von hier.«
»Heute nicht.« Lisa sah auf die Uhr. »Ich bin noch verabredet und schon zu spät.«
»Oh, ich wollte Sie nicht aufhalten.« Hendrik Jennes trat einen Schritt zurück und sah Lisa entschuldigend an.
»Nein, nein, Herr Jennes. Ist schon in Ordnung. Können wir uns für nächste Woche verabreden? Ich rufe Sie in den nächsten Tagen an.«
Jennes deutete eine Verbeugung an.
Heinz-Jürgen Schrievers ächzte vernehmlich.
»Muskelkater?« Ecki grinste.
»Lass mich bloß in Ruhe.«
»Oh, der Herr hat schlechte Laune. Haben sich deine Walkingstöcke beim Warmmachen verhakt?«
Der Archivar streckte vorsichtig seine Beine und versuchte mit seinen Zehen zu wackeln, die in den unvermeidlichen Filzpantoffeln steckten. »Du warst auch schon witziger. Aber ja, ich habe Muskelkater.«
»Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.« Ecki bog die Öffnung des Milchkartons weiter auf, um den Rest aus der Verpackung zu trinken.
»Lass Heinz-Jürgen in Ruhe. Ist doch klasse, dass er etwas für seine Gesundheit tut. Ein gesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper.« Frank lächelte Schrievers aufmunternd zu.
»Spar dir deine Sprüche. Du heuchelst doch auch nur. Guck dich lieber selbst an. Wenn du so weitermachst, wird dir der Betriebsarzt irgendwann ebenfalls die Gelbe Karte zeigen.« Schrievers zog seine Strickjacke enger um den Bauch und massierte sich die Oberschenkel. »Statt über gesundheitsbewusste Kollegen herzufallen, solltet ihr lieber an eurem Fall arbeiten.«
»Deshalb sind wir ja hier.« Ecki hatte die grüne Dose mit dem roten Deckel entdeckt, die auf einem der grauen Aktenschränke stand. »Was ist das denn?«
Der Archivar schenkte Ecki nur einen kurzen Blick. »Stell das gefälligst zurück. Das ist Pferdesalbe. Die hilft auch bei Muskelkater.«
Ecki lachte. »Hier steht: Haftet gut im Fell.«
Schrievers’ Blick verhieß nichts Gutes, deshalb stellte Ecki die Plastikdose schließlich doch zurück. »Wenn’s denn hilft.«
»Wir kommen keinen Deut voran. Die Analysen haben nichts wirklich Verwertbares gebracht, niemand vermisst eine Frau, schon gar nicht ohne Finger, auf die beiden Bluesharps können wir uns auch keinen Reim machen. Und zu allem Übel sitzt uns Carolina im Nacken. Ihr Chef will endlich Ergebnisse. Und sie will den Fall abgeschlossen haben, bevor sie wieder ins Allgäu fährt.« Frank musste zugleich an Lisas beharrliche Nachfragen denken, wann es Zeit wäre, um endlich eine gemeinsame Wohnung zu suchen.
»Und warum kommt ihr da ausgerechnet zu mir?« Heinz-Jürgen Schrievers wusste die Antwort, aber er wollte sie von den beiden hören. Schließlich tat ihre augenfällige Ratlosigkeit seinem Ego zur Abwechslung auch mal ganz gut. Er musste lächeln: eine andere Art Pferdesalbe, die auf seiner Seele gut haftete.
»Das ist nicht zum Lachen.« Ecki ärgerte sich über Schrievers’ Überheblichkeit und warf den leeren Getränkekarton in Schrievers’ Abfalleimer.
Frank räusperte sich. »Hast du keine Idee?«
Der Archivar unterbrach seine Massage und brummte versöhnlich: »Nun setzt euch
Weitere Kostenlose Bücher