Totenstimmung
Nächte hatte sie lange wach gelegen und war nach kurzen Schlafphasen immer wieder aufgeschreckt. Die Bilder der Toten berührten etwas in ihrem Inneren, das sie nicht fassen und nicht benennen konnte. Die von den Raupen befallenen Bäume erinnerten sie an Horrorfilme oder an das Cover einer LP von Uriah Heep , auf dem ein von Spinnweben überzogenes Gesicht abgebildet ist. Ihr großer Bruder hatte sie damals mit der LP -Hülle schockiert, die er ihr eines Abends unvermittelt vor die Nase gehalten hatte.
Der Fall Elvira Theissen machte ihr Angst. Sie musste an die Mundharmonikas denken. Die Melodie aus Spiel mir das Lied vom Tod ging ihr durch den Kopf. Sie schaute auf den dunkelblau daliegenden Rottachsee und hatte die lang gezogenen Töne der Mundharmonika im Ohr. An den Inhalt des Italowestern konnte sie sich nicht mehr erinnern. Nur daran, dass eine Mundharmonika eine Rolle spielte. Sie würde Borsch anrufen und ihn danach fragen.
Vom Zwiebelturm von St. Johannes klangen jetzt die Glockenschläge zur Dreiviertelstunde zu ihr herauf.
Warum zum Teufel hatte sich der Täter ausgerechnet eine behinderte Frau ausgesucht? Weil er »unwertes Leben« auslöschen wollte? Weil er einen Menschen erniedrigen und vernichten wollte, der nach seinem kruden Weltbild noch weniger wert war als er selbst? Oder suchten sie jemanden, der aus purer Lust am Töten mordete? Warum gab es keine verwertbaren Spuren? Der Tod von Elvira Theissen schien so sinnlos.
Carolina Guttat setzte sich auf »ihre« Bank. Statt über ihren Fall nachzudenken, sollte sie lieber abschalten. Sie sah hinüber zum Grünten. An seinen Flanken lag noch Schnee. Im Mai. Ein Bild wie eine kitschige Postkarte. Aber schön.
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Das Gesicht der Gewalt ist etwas Schönes. Ein gemordeter Mensch hat etwas Schönes. Er ist befreit von allen Zwängen seiner Welt. Sein Name reiht sich ein in das unendliche Archiv der Todesanzeigen in den Tageszeitungen. Die Namen lesen sich wie das Who is Who der Erlösten. Es gibt kein höheres Streben, als den Weg in das Nichts zu betreten.
Die Fotoarbeiten Antonia Barborics: Ausdruck höchster Ästhetik des Todes. Dagegen stehen die Effekthaschereien von Gothic- oder Metalmusikern. Wiewohl es genügend ästhetische Vorbilder in der Kunst und Literatur gibt, die eine Fundamentalität des Grauens nahelegen. Dazu zählt sicher das Werk von Bosch.
Das Grauen ist immer gleich auch Zukunft, nicht nur die Beschreibung von Vergangenheit und Gegenwart.
Und: Das Grausame in unserer frühesten Erfahrung ist zugleich die Heilung unserer größten Ängste.
Er ließ den Bleistift sinken, mit dem er die Sätze aufs Papier gebracht hatte. Das Schreiben strengte ihn an. Was hatte er vergessen?
Der Film! Apocalypse Now – es gab keinen passenderen Begriff als »Ästhetik des Grauens« für dieses opulente Werk. Diese Farbenpracht und diese grausam-grotesken Kriegsbilder! Perfektes Kino, das mit einer Reise in die Finsternis beginnt, an deren Ende das Grauen steht. Das Leben ist Krieg, und Krieg ist das Leben. Mord ist Leben, und Leben ist Mord. Blut ist die Farbe des Todes und die Farbe des Lebens.
Er keuchte. Er hatte sich zwingen müssen, die letzten Zeilen zu schreiben. Nicht, weil er das Grausame in Worte packte, sondern weil er wusste, dass er es nicht annähernd beschreiben konnte, sosehr er sich auch bemühte. Es blieb ein Versuch, Stückwerk am Rande der eigentlichen Genialität.
Er würde noch viel mehr erleben müssen, um seiner Sehnsucht auch nur ein kleines Stück näher kommen zu können. Er wusste: Ich bin da, um zu beschreiben ... Und er spürte, dass der Satz schmerzte.
Seine Augen schmerzten, die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Das Weiß des Blattes blendete ihn. Er hatte Durst. Sein Mund verlangte nach Wasser, sein Hirn nach mehr. Er musste aufhören, das Schreiben war in den vergangenen Minuten zur Qual geworden. Er hatte das Gefühl, an die Luft zu müssen, um nicht zu ersticken.
Er blickte auf das schwarz glänzende Metall der Pistole. Waffen sind der Ausdruck vollendeter Ästhetik. Waffen aus Stahl und menschliche Waffen. Waffen aus Fleisch und Blut.
Sie war fast so weit. Sie wollte ihre Schmetterlinge spüren. Er wartete nur noch auf die richtige Gelegenheit.
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»Was hat Carolina sonst noch gesagt?« Ecki stoppte den CD -Player. Sie waren am Ziel. Krämer musste im Haus gegenüber wohnen.
»Sie hat von Ennio Morricone gesprochen. Once Upon a Time in the West. Spiel mir das Lied vom
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