Totenstimmung
Verwandte.«
Heinz-Jürgen Schrievers ächzte leise, als er vorsichtig seine Position änderte. »Das war doch zu erwarten, oder?«
»Walken macht Muskelkater. Du brauchst mehr Magnesium.« Frank musste schmunzeln. Seit Heini Schrievers walkte, war sein rosiges Gesicht etwas schmaler geworden, und auch das Zopfmuster seiner Strickjacke saß mittlerweile ein bisschen lockerer.
»Grins nicht so blöd.« Schrievers zupfte beleidigt an der Knopfleiste seines Diensthemds.
»Könnt ihr euch mal konzentrieren?«, moserte Ecki.
Frank ging nicht darauf ein. »Die Auswertung der Lieferlisten der Harpfirma hat auch nichts ergeben. Wir wissen zwar, dass in Mönchengladbach in dem fraglichen Zeitraum rund 150 Harps verkauft wurden. Aber wir wissen nicht, an wen. Die Läden führen keine Kundenlisten.«
»Dann hilft nur die Fotoroadshow. Vielleicht erkennt jemand Radermacher«, meinte Schrievers.
»Das wäre immerhin ein Anfang.« Ecki seufzte.
»Ihr könnt auch einfach hier rumsitzen.« Schrievers ließ sich in seinen Bürostuhl zurückfallen. »Oder walken.«
—
Die Nächte. Es sind vor allem die Nächte. Sie machen Schmerzen: das Schwarz und die absolute Stille. Und das Wasser. Das Wasser, das so kalt ist.
Die Hände sind taub. Der Gürtel hat das Blut abgeschnürt. In den Nasenlöchern sammelt sich Staub. Die scharfen Kanten der Mundharmonika werden in die Mundwinkel gepresst. Die Decken der Harmonikas schmecken nach Metall. Das Klebeband verhindert zuverlässig das Ausspucken.
Nicht tief atmen. Nur ganz flach. Und nur durch die Nase. Immer nur durch die Nase.
Und nur ja nicht pinkeln.
—
Carolina Guttat war dem geteerten Weg Richtung »Bibelheim« gefolgt und kurz vor dem lang gestreckten Bau des »christlichen Gästehauses« auf den schmalen Fahrweg eingebogen, der hinunter nach Moosbach führte. Am Stein mit dem Wegkreuz und der Bank, über die ein Baum seine Krone ausgebreitet hatte, blieb die Staatsanwältin stehen, um den eingemeißelten Spruch zu lesen: »Im großen Tempel der Natur sieht man des großen Gottes Spur. Doch willst du ihn in voller Größe seh’n, dann bleib vor seinem Kreuze steh’n.«
Sie war nicht sonderlich religiös, obwohl sie ihre beiden Kinder hatte taufen lassen. Allerdings war ihr jede religiöse Schwärmerei suspekt. Das lag an ihrer Erziehung, die Religion unausgesprochen in die Nähe von Sektierertum gerückt hatte. Es lag aber sicher auch daran, dass sie in ihrem Beruf bisher keine göttlich gesteuerte Gerechtigkeit hatte entdecken können. Die Grausamkeit der Menschen ließ dem Glauben an eine höhere Instanz kaum Raum.
Carolina Guttat stützte die Hände in die Hüften und sah über von Löwenzahn gelb gepunktete Wiesen hinunter zum See. Dann schloss sie die Augen. Es waren die Stille, die ihr stets als Erstes einfiel, und der Geruch nach frisch gemähtem Gras, wenn sie im Büro saß und an das Allgäu und »ihr« Moosbach dachte.
Auch jetzt hörte sie nicht einmal eine Vogelstimme, geschweige denn ein Auto. Sie war versucht, die Ruhe als »himmlisch« zu bezeichnen.
Die Staatsanwältin öffnete die Augen. Zu ihren Füßen lagen die Wiesen wie grün-gelbe Matten rund um das kleine Dorf, in das sie schon seit vielen Jahren fuhr. Sie spürte ein wohliges Heimatgefühl, als sie an die Familien Böck, Bischlager, Mader und Vetter dachte, die über die Zeit Teil ihres Lebens geworden waren.
Moosbach war zu ihrem Fluchtpunkt geworden, immer wenn sie die Stadt und ihre Arbeit nicht mehr ertrug. Diesmal war sie ohne Mann und Kinder gefahren, schwer genug, aber sie hatte es in der Behörde nicht mehr ausgehalten. Für ein paar Tage, hatte sie gesagt, um den Kopf frei zu bekommen, neue Kraft zu tanken. Sie hatte sich im Gasthof Zum Kreuz eingemietet, deren Besitzern sie seit Langem freundschaftlich verbunden war.
»Müd schaust aus«, hatte Sieglinde bei der Begrüßung gesagt. Und Martin hatte auf seine unnachahmliche Art gelacht und seinen in eine speckige Lederhose gepackten Bauch durch den Gastraum geschoben, um ihr den besten Platz unter dem Bild des Bayernkönigs anzubieten. Gleich darauf hatte er ihr eine große Apfelschorle an den Tisch gebracht und sich für ein paar Minuten zu ihr gesetzt.
In Moosbach waren ihre Fälle weit weg. Hier war sie nicht die für Kapitaldelikte zuständige Staatsanwältin, in Moosbach war sie »die Caro«.
Sie schlief seit Tagen schlecht. Sie hatte gehofft, dass sich das in Moosbach ändern würde, aber die ersten beiden
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