Totenstimmung
geschmunzelt. Aber jetzt fühlte er sich geradezu beschwingt und jung. Warum war er nicht schon eher auf die Idee gekommen, sich Walkingstöcke zu kaufen?
Ohne zu überlegen, änderte Heinz-Jürgen Schrievers an der Schutzhütte, die den Abzweig vom Niersweg zum Schloss markierte, die Richtung und bog mit ausholenden Schritten auf die erweiterte Runde um das Herrenhaus ein.
Nicht weit vor ihm waren drei kräftig gebaute Frauen in Regenjacken, Leggings und Turnschuhen unterwegs, die ihre Walkingstöcke mit hängenden Armen nachlässig über den Boden schleifen ließen, und sich angeregt unterhielten. Wieder drei, die sich mit ihren Stöcken die Lizenz zum Quatschen gekauft hatten, amüsierte sich Schrievers. Warum machte es sich das mobile Kaffeekränzchen bloß so schwer? Ohne die störenden Stöcke ließ es sich entspannter tratschen.
Betont stramm überholte er das Trio. In seinem Rücken hörte er ein lautes Kichern, das er aber ignorierte. Die sollten sich lieber ein Beispiel an ihm nehmen!
Er hatte die Gruppe noch nicht lange hinter sich gelassen, als er auf mehrere Eichen aufmerksam wurde, die auf dem Grünstreifen zwischen dem Waldweg und der träge fließenden Niers standen. Die noch jungen Bäume waren mit einer grauen Substanz eingepackt, die wie Gaze eng über Stämmen, Ästen und Blättern lag. Prozessionsspinnerraupen! Heinz-Jürgen Schrievers dachte an dicke Spinnweben in Kellern oder auf Dachböden von Abbruchhäusern, deren Berührung ihm in seiner Kindheit Angst gemacht hatte. Fäden und Netze, die an seinen nackten Armen kleben blieben und ihm den Atem nahmen.
Er hatte die Fotos von Elvira Theissen vor Augen. Wie krank musste ein Täter sein, um sein Opfer mit lebenden Raupen zu überschütten? Wohl wissend, dass die behinderte Frau nicht einmal begreifen konnte, was ihr zustieß.
Schrievers hatte in den vergangenen Minuten sein schnelles Tempo beibehalten. Er versuchte tief einzuatmen, aber seine Lungen füllten sich nicht richtig. Etwas riegelte seine Bronchien ab. Keuchend versuchte er, Luft in den Brustkorb zu pressen. War es wirklich nur die übermäßige Belastung, oder waren es die Gedanken an die Qualen der Toten, die ihm die Luft nahmen? Oder waren es die giftigen Härchen der Raupen, die in der Luft hingen? Einbildung, dachte er, alles Einbildung! Aber er wollte trotzdem so schnell wie möglich zum Parkplatz zurück.
»Geht Ihnen das auch so? Ich kann nicht verstehen, dass man sich eine Ausrüstung zum Walken kauft und dann nicht so nutzt, wie es sinnvoll und richtig ist. Das ist doch falsch verstandene Sportlichkeit und Geldverschwendung dazu.«
Schrievers fuhr herum. Er hatte nicht bemerkt, dass sich jemand von hinten genähert hatte.
»Ich wollte Sie nicht erschrecken.« Der Unbekannte nickte ihm freundlich zu.
Der Archivar verstand erst langsam. Der Mann musste die Frauen von vorhin meinen. Schrievers stellte seinen MP 3-Player leiser.
»Kein Problem, aber mit Musik auf den Ohren ist man von der Außenwelt ein wenig abgeschnitten.«
Obwohl Schrievers immer noch schnell unterwegs war, hielt der Unbekannte Schritt. Er schätzte den Mann auf ungefähr gleichaltrig. Über seinem kurz geschnittenen Haar trug er ein weißes Schweißband. Übergewichtig schien er nicht zu sein.
Der Mann hatte Schrievers’ prüfenden Blick bemerkt. »Ja ja, meine Frau ist der Meinung, ich könnte etwas für meine Figur tun. Ich sei in dem Alter, wo die Muskulatur schneller abbaut.« Er lachte ein dunkles, aber angenehmes Lachen. Dabei blieb er auf Schrievers’ Höhe. »Darf ich Sie ein Stück begleiten? Wir haben offenbar denselben Weg. Ich bin der Dietmar. Dietmar Gilleßen.«
Warum nicht, dachte der Archivar. Er spürte mittlerweile jeden Muskel. Er hätte vorhin nicht auf die größere Runde abbiegen dürfen. Ein wenig Ablenkung würde ihm den Rückweg leichter machen. »Gern. Mein Name ist Schrievers. Heinz-Jürgen Schrievers.« Er stoppte den Player und nahm die Stöpsel aus den Ohren.
Ecki schüttelte den Kopf und warf den Zwischenbericht der MK auf den Schreibtisch. »Die Kollegen haben jeden Mieter kontrolliert, jeden Stein umgedreht. Nichts Auffälliges. Niemand hat eine Verbindung zu Elvira. Niemand ist auffällig. Wenn man mal davon absieht, dass in einer Seitenstraße ein 35-Jähriger wohnt, der wegen eBay-Betrugs eine Bewährungsstrafe hat, und dass ein Typ seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Niemand in der Nachbarschaft hat beruflich Kontakt zu Behinderten oder behinderte
Weitere Kostenlose Bücher