Totentaenze
finden würde – einen Abschiedsbrief oder irgendetwas sonst, das mir Luis’ »Unfall« erklären könnte.
Normalerweise würde ich nie in seinen Sachen herumwühlen, aber wenn jemand im Koma liegt, ist nichts mehr normal.
Sein Passwort war kein Problem, das weiß ich schon lange und er kennt auch meins. Heinz007, nach Heinz Erhard.
Luis ist ein Fan von gelben Notizzetteln. Es gibt davon jede Menge auf seiner Schreibtischoberfläche: der Anfang einer Comedynummer, eine Literaturliste für ein Deutschreferat, eine Telefonnummer, Zitate von Komikern. Aber da war nichts Brauchbares dabei. Also habe ich auf seinem Rechner weitergesucht, in der Hoffnung, den entscheidenden Hinweis darauf zu finden, was ihn dazu getrieben hat, nachts mit Papas Auto gegen den Baum zu fahren.
Und dann bin ich fündig geworden. In einer Datei namens Lächer-Ich.doc hab ich Mails gefunden.
Alle waren an Marie gerichtet. Manchmal waren es nur kurze Mitteilungen, manchmal längere Briefe, manchmal sogar so etwas wie Gedichte. Neugierig fing ich an zu lesen, doch nach dem zweiten Gedicht konnte ich kaum noch atmen, geschweige denn weiterlesen. Es tat weh zu erkennen, wie sehr Luis Marie angeschmachtet hatte. Es war, als könnte ich sein Herz bluten hören.
Ich war völlig starr vor Enttäuschung. Warum hatte er mir nie von seinen Gefühlen für Marie erzählt?
Als ich mich in Nils verliebt habe, war Luis der Einzige, dem ich alles haarklein erzählt habe, und das, obwohl Luis’ erster Kommentar nicht gerade ermutigend gewesen war: »Nils? Nein, bloß nicht! Du meinst doch nicht etwa den blonden Typen aus der Oberstufe, der sich für Brad Pitt hält, aber leider wie Otto aussieht?«
Was so natürlich nicht stimmt, denn Nils ist viel größer als Otto und hat auch mehr Haare. Aber er kann so lachen wie Otto.
Jede noch so winzige Kleinigkeit habe ich Luis erzählt: Wie oft mich Nils heute wieder mit seinen blaugrauen Augen angelächelt hat, was er genau gesagt hat – zum Beispiel »Hallo« – und was die Stimmlage dabei wohl signalisieren sollte oder was er anhatte. Habe versucht, Luis zu erklären, warum ich es so großartig fand, als Nils dann wirklich angefangen hatte, mich anzubaggern. Schließlich war Nils der Basketballstar der Schule; alle Mädchen, die älter waren als fünfzehn, wollten mit ihm gehen!
Ich habe es nie aufgegeben, Luis zu erklären, was so toll an Nils war, auch wenn Luis immer nur an ihm rummäkelte. Nils wusste einfach, wo’s langgeht. Er hat Entscheidungen getroffen, wo andere ewig rumgelabert haben. »Lina, wir gehen heute Abend ins Stars and friends Billard spielen, dann schauen wir uns den neuen James Bond an, alles klar?« Bisher musste nämlich immer ich die Vorschläge machen, egal, ob ich mit Luis oder mit meinen Freundinnen unterwegs war. Und ich hätte Luis sogar erzählt, wie sich Nils’ Küsse anfühlen, aber Luis hat sich die Ohren zugehalten und gemeint, das würde an Folter grenzen.
Also warum um alles in der Welt hat er mir Marie verschwiegen? Ich habe es schließlich ja auch ausgehalten, dass er Nils blöd fand!
Die Antwort auf diese Frage fand ich einige Sekunden später. Nachdem ich einige Mails von Marie entdeckt hatte, wusste ich, warum er mir nichts erzählt hatte. Meinem kleinen Bruder war klar, was ich dazu gesagt hätte!
Hey, Luis, danke für deine letzte Mail. Sorry, wenn ich in der Schule so tun muss, als hätte ich sie nie gelesen. Ich habe meine Gründe dafür, mich so zu verhalten. Aber ich kann es dir noch nicht sagen; bitte vertrau mir.
Oder
Bleib cool, Luis, es hat keinen Sinn, sich aufzuregen. Ich muss momentan so reagieren. Aber glaub mir, ich liebe deine Mails und ich bitte dich: Schreib mir auch weiterhin. Schon bald kann ich dir das alles erklären, okay?
Ich hätte ihm natürlich gesagt, dass er die Finger von Marie lassen soll. Das war ja wohl so was von offensichtlich, dass sie irgendwelche miesen Spielchen mit ihm trieb.
Aber das konnte einfach nicht alles sein, irgendwas musste da noch passiert sein. Luis ist ja nicht so ein Sensibelchen, das nur wegen ein paar blöder Mails gleich gegen einen Baum fährt. Leider hat Luis nie Tagebuch geführt, so etwas fand er immer schon ziemlich lächerlich, genauso wie Blogs – geistiges Rumgepupse, Hirnfurze waren das für ihn.
Blieb also nur Marie als Informationsquelle, und weil ich nicht einmal mehr genau wusste, wie seine angebetete Marie überhaupt aussah, habe ich im Internet erst bei Facebook und dann bei den
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