Totentaenze
endlich alles erzählen, bevor sie es von jemand anderem hören würde. So beliebt, wie Lina an der Schule war, bekam sie immer alles mit …
»Schön, dass du da bist, komm doch rein«, sagte Lina.
Marie zwang sich, nicht in bewundernde Kommentare auszubrechen, als sie den gewaltigen Flur aus rotem Marmor betrat. »Wie geht es deinem Bruder?«, fragte sie stattdessen, zog ihren Daunenmantel aus und reichte ihn Lina, die ihn achtlos über einen durchsichtigen rosa Plastikstuhl warf.
»Meinem Bruder? Tja, er liegt leider immer noch im Koma, weißt du?« Lina starrte Marie direkt in die Augen. »Ich weiß ja, dass du mit ihm in einer Klasse bist – aber du interessierst dich wohl mehr für ihn?«
Kein Zweifel, Lina wusste es. Dann war jetzt der richtige Moment. Los, Marie, rede, befahl sie sich, doch weil ihr nicht klar war, wie oder wo sie anfangen sollte, blieb sie stumm.
Ja, ich liebe ihn, hätte Marie am liebsten in diese Halle geschrien. Ich liebe Luis. Sie räusperte sich. Verdammt, warum war es so schwer anzufangen?
Wie hatte sie nur auf die Idee kommen können, dass ausgerechnet eine wie Lina sie verstehen könnte? Die toughe Lina, die immer ganz genau wusste, was richtig und falsch war. Lina, die überall den Ton angab und die das beliebteste Mädchen der Schule war. Die sich den Schwarm aller Mädchen als Freund geangelt hatte. Lina, die Marie damals, als sie noch zusammen in einer Klasse gewesen waren, einfach ignoriert hatte. Lina war nie gemein zu ihr gewesen, nein, das nicht. Marie war ganz einfach unsichtbar für sie gewesen. Als würde sie gar nicht existieren.
»Na, da können wir ja später noch drüber reden. Wie wär’s erst mal mit einer Cola?«
Marie nickte erleichtert und folgte Lina dann in eine offene Küche mit einem Wohnraum, der größer war als die ganze Wohnung von Maries Eltern. Sie setzte sich an den Tresen aus schwarzem Granit, der die Küche vom Wohnraum abtrennte.
Lina nahm eine Cola und Eiswürfel aus dem Edelstahlkühlschrank und goss alles in Gläser.
»Prost!«, sagte Lina, rührte ihr Glas dann aber nicht an, sondern beobachtete Marie beim Trinken.
Die Cola schmeckte irgendwie merkwürdig und Marie setzte ihr Glas wieder ab. »Was ist es denn, das Luis dir für mich gegeben hat?«, fragte sie unbehaglich.
»Es ist unten in unserem Schwimmbad. Weißt du, wir haben nämlich einen Pool im Keller. Wir können ja gleich mal nach unten gehen. Du hast doch hoffentlich ein bisschen Zeit, oder?« Lina strich sich ihren Pony nach hinten, als ob sie nervös wäre.
Marie wischte sich den Colaschaum von den Lippen. Hoffentlich kam Lina nicht auf die Idee, sie zum Schwimmen einzuladen. Abgesehen davon, dass Marie sonst niemanden kannte, der einen Pool im Haus hatte, verspürte sie einen Anflug von Panik, als sie sich vorstellte, dass sie sich vor Lina ausziehen sollte. Hastig nahm sie noch einen Schluck von der Cola. »Was für eine Cola ist das denn, die schmeckt total merkwürdig, so bitter«, sagte sie dann schnell.
»Cherrycola, die Lieblingscola von Luis, die trinkt ja jetzt keiner mehr.« Lina seufzte demonstrativ.
»Aber er wird doch bestimmt bald wieder gesund, oder?« Marie fand, ihre Stimme klang wie ein heiserer Hamster, unendlich leise und schwach, geradezu eine Einladung für Lina zum Drübertröten. »Ob er gesund wird, das geht nur die Menschen etwas an, die ihn lieben«, sagte sie laut und sehr bestimmt.
Maries Wangen wurden heiß von dem ganzen Blut, das ihr in den Kopf schoss. Luis war also nicht aus dem Koma erwacht und hatte auch nicht nach ihr gefragt, sondern Lina hatte die Seite bei den Lokalisten entdeckt, obwohl doch alles sofort gelöscht worden war. Jetzt musste sie Lina die Wahrheit sagen. Die ganze abscheuliche, peinliche Wahrheit.
»Trink doch, dann können wir endlich ins Schwimmbad runtergehen.« Lina starrte Marie dabei so streng ins Gesicht, dass Marie ihr Glas in einem Zug austrank.
Danach fühlte sie sich besser, fast sogar beschwingt. Jetzt würde sie es hinkriegen! Sie stellte das leere Glas mit einem Knall ab und zog die Schulterblätter zusammen.
»Lina, ich muss dir etwas erklären.«
Linas Augen blitzten auf. »Ich glaube nicht, dass das nötig ist.«
»Da täuschst du dich.« Marie spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Lina hatte doch überhaupt keine Ahnung! Sie konnte sich nicht mal in ihren kühnsten Träumen ausmalen, was wirklich passiert war. Marie stieg vom Barhocker, um sie herum drehte sich alles, im letzten
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