Totentaenze
Moment hielt sie sich am Tresen fest, kniff sich in den Arm, um wieder klarer denken zu können.
»Ist dir nicht gut?«, fragte Lina und kam näher.
»Geht schon«, flüsterte Marie. Typisch, dass ihr jetzt schwindelig wurde. Wie feige.
»Komm, gehen wir doch nach unten, dort ist auch Luis’ … ähh … Geschenk für dich. Und es gibt Liegestühle, dort kannst du dich ein bisschen hinlegen.«
»Okay. Gehen wir«, sagte Marie und hatte Mühe, Lina zu folgen, die schon im Flur war und dann durch das rotbraune Holztreppenhaus in den Keller hinunterlief. Vor ihren Augen verschwammen die vielen Türen zu einer großen Drehtür. Konzentrier dich, befahl sie sich. Du brauchst gar keine Angst zu haben, denn du hast nichts Schlimmes getan. Trotzdem wusste Marie, dass Lina sie verachten würde.
Lina schob die Schiebetür auf, die den Pool von einem Umkleideraum abtrennte. »Hier rein!«
Es roch stark nach Chlor, doch Marie atmete tief ein, hatte den Eindruck, als würde dieser scharfe Geruch ihren Verstand wieder beruhigen. Sie setzte sich auf einen der Liegestühle. Was wollte Lina eigentlich wirklich von ihr? Wenn sie von der Sache wusste, warum hatte sie sie dann nicht sofort damit konfrontiert?
Lina zog Jeans und Sweatshirt aus, sie trug einen grün gemusterten Badeanzug darunter. Nein, keinen Badeanzug, einen Bikini, dessen Ober- und Unterteil nur mit einem riesigen Metallring verbunden war. Der Ring bewegte sich schnell vor und zurück. Warum atmete Lina denn so heftig?
»Ich habe in der Umkleide Badesachen und ein Handtuch für dich hingelegt. Wir können ja erst eine Runde schwimmen und dann geb ich dir Luis’ Geschenk, ja?« Lina stieg an der Leiter ins Becken und winkte Marie. »Nun komm schon!«
Was sollte das denn jetzt? Warum rückte Lina nicht endlich damit raus, was Luis für sie hatte? Marie überlegte, ob sie einfach gehen oder gute Miene zum bösen Spiel machen sollte. Doch schließlich war sie hier, weil sie etwas aufzuklären hatte. Sie würde bleiben, aber sie würde sich nie im Leben vor Lina ausziehen. Aber das würde Lina nie verstehen, so cool wie sie war. Auf ihrer letzten Klassenfahrt – bevor Marie dann die vier Fünfen im Zeugnis gehabt hatte – hatten Lina, sie und noch vier andere Mädchen sich einen Schlafraum mit einem Badezimmer geteilt.
Lina hatte sich an- und aus- und umgezogen, ganz egal, wer gerade in der Nähe war. Lina schien ihren Körper gar nicht zu bemerken, auch nicht den von anderen. Sie machte sich jedenfalls nie über jemanden lustig. Ganz im Gegensatz zu den Mädchen, die jetzt in Maries Klasse waren, Mädchen wie … Vanessa.
Auf der Klassenfahrt war Lina einmal aus dem Badezimmer gekommen und hatte mit einem blutbefleckten Höschen herumgewedelt und ganz lässig nachgefragt, wer denn dieses Ding vergessen hätte. Marie hatte ihr hellblaues Panty mit den Flecken angestarrt, sich am Bett festgehalten und gebetet, dass keiner auf die Idee kommen würde, es wäre ihres. Dabei hatte sie es extra sorgfältig in ihr Handtuch eingewickelt, damit es ja niemand zu Gesicht bekam.
Hätte Vanessa diesen Fund gemacht, hätte sie keine Ruhe gegeben, bis sie herausgefunden hätte, wem es wirklich gehört. Hätte es mit ihrem Handy fotografiert, bei den Lokalisten reingestellt und Kommentare dazu abgelassen.
So war Lina nicht. Für Lina war Marie gar nicht da, so wie das berühmte rostige Fahrrad in China.
Damals hatte sie Lina gehasst.
Marie lächelte bitter. Das war noch, bevor sie zu Luis in die Klasse gekommen war und dort zwangsweise Bekanntschaft mit Vanessa und deren Gang schließen musste.
Marie hatte angenommen, Luis würde genauso über sie hinwegsehen, wie seine Schwester es getan hatte.
Es war jedoch Vanessa, die gleich am ersten Schultag allen klargemacht hatte, dass Marie nicht mehr länger übersehen werden durfte. Vanessa sorgte dafür, dass Maries Hosengröße diskutiert wurde. Vanessa ließ zwei rote Linsen rumgehen, von denen sie behauptete, das seien Gipsabdrücke von Maries Busen. Unter Maries Tisch fanden sich Artikel über Schönheits-OPs mit dem Hinweis, dass bei ihr selbst das nichts mehr nutzen würde.
Marie hatte versucht, alles einfach wegzustecken, hatte sich gesagt, dass es irgendwann aufhören würde. Aufhören müsste. Hatte sich zusammengerissen und so getan, als wäre ihr das alles egal.
Und dann war das mit Luis passiert.
Marie hatte sich wieder mal zu den hinteren Radständern geflüchtet, um sich zu beruhigen. Zusammengekauert
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