Totentöchter - Die dritte Generation
andere ist rundum glücklich darüber, gefangen zu sein. Mit denen habe ich nichts gemein. Meine Beine können mich gar nicht schnell genug aus dem Raum tragen.
Draußen im Korridor geht der Bibliotheksgeruch in den rauchigen Holz- und Gewürzduft der Räucherstäbchen über, die in kleinen Nischen in der Wand brennen. Gabriel ist gerade in den Fahrstuhl gestiegen und die Türen wollen sich eben schließen, als ich »Warte!« sage und zu ihm in die Kabine stürze. Die Türen schließen sich, und ich halte meine Knie und keuche, als wäre ich gerade eine Meile gesprintet. Gabriel drückt einen Knopf und es geht abwärts.
»Du weißt, dass du irgendwann erwischt wirst, wenn du dich weiter so von deiner Etage wegstiehlst«, sagt er, aber sein Ton hat nichts wirklich Bedrohliches.
»Ich kann das nicht«, sage ich und schnappe nach Luft. Aber nicht von dem kurzen Spurt bin ich so atemlos. Meine Brust wird eng. Mein Blick verschwimmt. »Ich hasse es hier. Ich hasse alles an diesem Ort. Ich …« Meine Stimme bricht. Ich erkenne, was passiert. Mein Körper
tut das, was er seit dem Moment, als ich in diesen Lastwagen gestoßen worden bin, unbedingt tun will. Nur war ich da zu erschüttert dazu, und als ich hier aufwachte, war ich zu wütend.
Gabriel kann es auch spüren. Er fasst in seine Brusttasche und hält mir bereits ein Taschentuch hin, als der erste Schluchzer hochkommt.
Die Fahrstuhltüren öffnen sich zu einem Korridor, in den Lärm aus der Küche dringt. Es riecht nach gekochtem Hummer und irgendetwas Süßem, frisch Gebackenem. Gabriel drückt einen Knopf und die Türen schließen sich wieder, nur dieses Mal setzt sich die Kabine nicht in Bewegung.
»Willst du darüber reden?«, fragt er.
»Musst du nicht zurück in die Küche?«, frage ich und putze mir die Nase. Ich tue mein Bestes, um nicht wie eine bemitleidenswerte Schniefnase auszusehen, aber das ist schwer, wenn das Taschentuch schon so nass und schleimig ist, dass es die Tränen nicht mehr trocknen kann, die immer noch kommen.
»Schon in Ordnung«, sagt er. »Die denken, dass ich beim Bedienen von Cecily aufgehalten werde.« Die dreiste, fordernde kleine Cecily nimmt bei den Dienern schnell Roses Platz der am wenigsten beliebten Ehefrau ein.
Gabriel und ich setzen uns im Schneidersitz auf den Boden, und er wartet geduldig, bis mein Schluckauf nachlässt und ich reden kann.
Es ist schön im Fahrstuhl. Der Teppich ist abgetreten, aber sauber. Die Wände sind beerenrot und mit viktorianischen Mustern verziert, die mich an die Bettdecke meiner
Eltern denken lassen – und wie geborgen ich mich darunter gefühlt habe. Dunkel erinnere ich mich noch, wie sie sich anfühlte, diese längst verloren gegangene Sicherheit. Hier bin ich auch sicher. Irgendwo im Hinterkopf frage ich mich allerdings, ob diese Wände Ohren haben – ob die Stimme von Hausprinzipal Vaughn im nächsten Moment aus Lautsprechern über unseren Köpfen dröhnt und er Gabriel droht, weil er zugelassen hat, dass ich bis hierher gelangen konnte. Aber ich warte und keine Stimme ist zu hören, davon abgesehen bin ich so aufgebracht, dass mir ohnehin alles egal ist.
»Ich habe einen Bruder«, sage ich und fange am Anfang an. »Rowan. Als unsere Eltern vor vier Jahren gestorben sind, mussten wir die Schule verlassen und uns Arbeit suchen. Für ihn war es nicht schwer, Fabrikarbeit zu finden, die gut bezahlt war. Aber ich konnte so wenig, ich war praktisch nutzlos. Er glaubte, es sei nicht sicher für mich, allein nach draußen zu gehen, deshalb versuchten wir, möglichst nah beieinander zu bleiben. So nahm ich in den Fabriken Telefonjobs an, für die kaum etwas bezahlt wurde. Wir hatten genug, um über die Runden zu kommen, aber nicht mehr so wie früher, verstehst du? Ich wollte mehr tun. Vor ein paar Wochen habe ich eine Annonce in der Zeitung gelesen, in der für Knochenmark Geld geboten wurde. Angeblich sollten neue Untersuchungen zur Erforschung des Virus durchgeführt werden.«
Ich drehe das Taschentuch zwischen den Händen, betrachte es mit meinem getrübten Blick. In einer Ecke ist eine scharlachrote Stickerei, wohl eine Blume, allerdings ähnelt sie keiner, die ich je gesehen habe. Sie hat mehrere,
dicht aneinandergedrängte pfeilförmige Blüten. Das Bild verschwimmt und verdoppelt sich. Ich schüttele den Kopf, um wieder klar zu werden.
»Sobald ich das Labor betreten und all diese anderen Mädchen gesehen habe, begriff ich, dass ich in eine Falle geraten war. Ich habe
Weitere Kostenlose Bücher