Totentöchter - Die dritte Generation
die Bibliothek kommt. Sie schnaubt empört, während sie sich in einen Sessel an einem der Tische fallen lässt. »Na, was für eine Zeitverschwendung«, sagt sie. Und dann, für den Fall, dass wir sie nicht gehört haben: »Was für eine komplette Zeitverschwendung!«
Als sie das sagt, betritt Gabriel mit einem Tablett den Raum – mit Tee und Zitronenscheiben in einer kleinen Silberschale.
Ich setze mich in den Sessel gegenüber von Cecily, die ihre Tasse hochhält und ungeduldig darauf wartet, dass Gabriel ihr einschenkt. Jenna gesellt sich schweigend zu uns, wobei sie sich das aufgeschlagene Buch vors Gesicht hält. Ohne aufzuschauen, nimmt sie eine Zitronenscheibe und lutscht daran.
»Linden hat mich nach draußen in den Rosengarten eingeladen«, sagt Cecily und nimmt einen Schluck Tee.
Dann rümpft sie die Nase. »Keine Sahne drin und kein Zucker!«, blafft sie Gabriel an, der verspricht, umgehend mit dem Gewünschten zurück zu sein. »Egal«, sagt sie, »ich dachte, jetzt fängt er endlich an, sich wie ein Ehemann aufzuführen, wisst ihr? Wird langsam Zeit. Aber er hat mir nur das Spalier für die Sonnenblumen gezeigt, das vor hundert Jahren aus Europa importiert worden ist oder so, und ohne Ende vom Nordstern geredet. Wie alt der ist, wie der den Forschern dabei geholfen hat, ihren Weg nach Hause zu finden. Das war ein völliger Reinfall – er hat mich nicht mal geküsst!«
Ich denke an den Morgen zurück, den ich allein mit Linden in demselben Garten verbracht habe, bei Sonnenaufgang. Er hatte von den japanischen Kois gesprochen und davon, wie die Welt früher war. Jetzt kommt mir der Gedanke, dass er sich gern an ferne Orte träumt, genau wie seine tote Frau es getan hat. Ob es wohl das war, was sie aneinander geliebt haben? Oder hat das Aufwachsen in den gepflegten Mauern dieser Gärten ihnen eine Liebe zu Dingen eingepflanzt, die sie niemals selbst gesehen haben?
Mit mir passiert doch dasselbe, oder nicht? Alles, was ich getan habe, um mich hier zu trösten, war doch, mich in Vorstellungen von der Welt zu verlieren, wie sie einmal gewesen ist. Irgendwas durchzuckt mich – was ist es? Mitleid? Sympathie? Verständnis?
Was immer es sein mag, es ist nicht willkommen. Ich habe keinen Grund, mich mit Linden Ashby zu identifizieren. Ich habe keinen Grund, überhaupt irgendetwas für ihn zu empfinden.
Jenna saugt das Fruchtfleisch der Zitronen aus und
legt die leeren Schalen auf den Tisch, wenn sie fertig ist. Sie blättert eine Seite um. Sie verliert sich in Geschichten. Auf diese Weise sind wir beide, sie und ich, hier verloren, glaube ich.
»Mich will Linden nicht anfassen. Aber dich hat er geküsst«, sagt Cecily zu mir. Das ist ein Vorwurf.
»Wie bitte?«, sage ich.
Sie nickt aufgeregt, als wäre das die natürlichste Sache der Welt. Auf einmal sind ihre braunen Augen größer und strahlender. »Ich hab ihn heute Morgen aus deinem Zimmer kommen sehen. Ich weiß, dass er die Nacht mit dir verbracht hat.«
Keine Ahnung, was ich darauf sagen soll. Ich weiß nicht, welche Grenzen es zwischen Schwesterfrauen gibt. »Ich dachte, was in unseren Zimmern geschieht, wäre privat«, bringe ich hervor.
»Oh, sei doch nicht so prüde«, sagt Cecily. »Hast du vollzogen?« Sie lehnt sich zu mir hinüber. »War es absolut märchenhaft? Ich wette, das war es.«
Gabriel kommt zurück und stellt ein Kännchen Milch auf den Tisch. Cecily nimmt den Zuckertopf von ihm entgegen und kippt fast die Hälfte des Zuckers in ihre Tasse. Sie nimmt einen weiteren Schluck, und ich kann hören, wie die Kristalle zwischen ihren Zähnen knirschen. Sie wartet auf meine Antwort, aber das einzige Geräusch kommt von Jenna, die das Leben aus diesen Zitronen saugt – und von Gabriel, der sich räuspert, bevor er sich umdreht und hinausgeht.
Ich spüre, wie Hitze mir in die Wangen steigt. Ob es Scham oder Wut ist, kann ich nicht sagen. »Das geht dich rein gar nichts an!«, rufe ich.
Neugierig und vielleicht belustigt sieht Jenna hinter ihrem Buch hervor. Cecily strahlt und stellt mir alle möglichen persönlichen Fragen, die sich in meinem Kopf drehen und drehen, bis ich ihren Anblick nicht mehr ertrage.
Ich kann den Anblick dieser Mädchen nicht ertragen, die mir keine Freundschaft bieten und keinen Trost spenden, die niemals die Dinge, von denen Linden gesprochen hat, zu schätzen wissen würden. Was bedeutet denen der Nordstern? Eine hat sich ein sicheres kleines Grab in jahrhundertealten Schinken gegraben und die
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