Totentöchter - Die dritte Generation
»Vielleicht weiß dort jemand, wo er ist. Oder frag Elle.«
Sie zögert, dann klopft sie wieder. »Darf ich reinkommen?«
Ich stehe auf, werfe die Decke schnell über die Matratze und streiche die Falten glatt, schüttele die Kissen auf. Ich habe nichts Falsches getan, aber plötzlich ist es mir gar nicht recht, wenn sie Gabriel in meinem Zimmer entdeckt. Ich gehe quer durch den Raum und mache die Tür auf.
»Was willst du?«, sage ich.
Sie drängt sich an mir vorbei, starrt Gabriel an und mustert ihn mit ihren braunen Augen.
»Ich bring dann das Geschirr in die Küche«, sagt er unbeholfen. Ich versuche, ihm über Cecilys Schulter hinweg einen entschuldigenden Blick zuzuwerfen, aber er will mich nicht zur Kenntnis nehmen. Er sieht kaum von seinen Schuhen auf.
»Na los, hol du mir heißen Kakao«, sagt Cecily. »Ganz, ganz heiß, aber tu keine Marshmallows rein. Das machst du immer, und dann schmelzen sie und werden ganz eklig, weil du immer so lange brauchst, bis du damit hier bist. Gib die Marshmallows in eine extra Schale. Nein, bring mir eine ganze Tüte.«
Er nickt, geht an uns vorbei.
Cecily schaut hinaus in den Korridor, bis die Fahrstuhltüren sich hinter Gabriel geschlossen haben, dann wirbelt sie zu mir herum. »Warum war deine Tür zu?«
»Geht dich nichts an«, blaffe ich. Mir ist klar, wie verdächtig das klingt, aber ich kann nichts dagegen machen. Mit Gabriel zu reden, gehört zu den wenigen schönen Erlebnissen hier. Meine Schwesterfrau hat nicht das Recht – und doch jedes Recht – mir das zu nehmen.
Ich setze mich an den Frisiertisch und gebe vor, den
Haarschmuck in der obersten Schublade zu ordnen, dabei koche ich vor Wut.
»Er ist nur ein Diener«, sagt Cecily und geht durch mein ganzes Zimmer, wobei sie mit dem Finger immer an der Wand entlangfährt. »Und außerdem ist er dumm. Er bringt nie genug Sahne oder Zucker zum Tee, und er braucht so lang, bis er mir das Essen gebracht hat, dass immer alles kalt ist, wenn er endlich …«
»Er ist nicht dumm«, unterbreche ich sie. »Du beklagst dich nur gern.«
»Ich beklage mich?«, zischt sie. »Beklagen? Du bist ja nicht diejenige, die jeden Morgen ihr Frühstück wieder ausspuckt. Du bist nicht diejenige, die den ganzen Tag im Bett liegen muss wegen dieser blöden Schwangerschaft. Ich denke nicht, dass ich zu viel verlange, wenn ich von den dummen Dienern erwarte, dass sie ihre Arbeit machen und mir alles holen, was ich haben will.« Sie lässt sich auf meine Matratze fallen und verschränkt trotzig die Arme.
Punkt für sie.
Von hier aus kann ich die kleine Wölbung unter ihrem Nachthemd sehen. Und ich nehme auch den schwachen Geruch nach Erbrochenem durch das Parfüm wahr, das sie aufgelegt hat. Ihr Haar ist ungekämmt, ihre Haut blass. Und so ungern ich es zugebe, ich verstehe, warum sie so mieser Stimmung ist. Sie macht mehr mit, als ein Mädchen in ihrem Alter mitmachen sollte.
»Hier«, sage ich, lange in meine Schublade und reiche ihr einen von den roten Bonbons, die Deidre mir an meinem Hochzeitstag gegeben hat. »Das wird deinen Magen ein wenig beruhigen.«
Mit einem zufriedenen »Mm« steckt sie den Bonbon in den Mund. »Und die Geburt wird wehtun, weißt du«, sagt sie. »Ich könnte sogar sterben.«
»Du wirst nicht sterben«, sage ich und verdränge den Gedanken an Lindens Mutter, die im Kindbett gestorben ist.
»Könnte ich aber«, sagt sie. Alle Streitlust ist aus ihrer Stimme gewichen. Sie klingt fast schon ängstlich, während sie auf das Bonbonpapier in ihrer Hand guckt. »Und deshalb sollen die mir alles holen, was ich haben will.«
Ich setze mich neben sie und lege den Arm um sie. Sie lehnt den Kopf an meine Schulter. »Okay«, stimme ich ihr zu. »Du sollst alles kriegen, was du haben willst. Aber, weißt du, mit Honig fängt man mehr Fliegen als mit Essig!«
»Was heißt das?«
»Meine Mutter hat das immer gesagt«, erzähle ich ihr. »Es bedeutet, wenn du nett zu den Leuten bist, tun sie lieber etwas für dich. Vielleicht tun sie sogar mehr als nötig.«
»Bist du deshalb so nett zu ihm?«, fragt sie.
»Zu wem?«
»Diesem Diener. Du redest immer mit ihm.«
»Kann sein«, sage ich. Ich fühle, wie meine Wangen anfangen zu brennen. Zum Glück sieht Cecily mich nicht an. »Ich bin einfach nur nett, glaube ich.«
»Du solltest nicht so nett sein«, sagt sie. »Man bekommt einen falschen Eindruck.«
Linden ist so entzückt über die Schwangerschaft, und die Stimmung im Haus ist so gut, dass er uns
Weitere Kostenlose Bücher