Totentöchter - Die dritte Generation
über die Lieferungen am frühen Morgen klagen hören, und seitdem träume ich von meiner Flucht auf einem Lieferwagen. Aber dann denke ich an die Fortschritte, die ich gemacht habe, um Lindens Vertrauen zu gewinnen. Das wäre völlig zerstört, wenn man mich erwischen würde – was mehr als wahrscheinlich wäre, weil Vaughn einfach alles weiß, was in diesem Haus vorgeht.
Jenna sagt: »Ich hätte gern ein großes Trampolin«, und am nächsten Morgen steht es im Rosengarten. Wir springen, bis uns die Lungen schmerzen, dann liegen wir in der Mitte und beobachten die Wolken für eine Weile.
»Das ist nicht der übelste Ort zum Sterben«, gesteht sie. Dann stützt sie sich auf einen Ellenbogen, wodurch mein Körper mehr zu ihr rutscht, und sie fragt mich: »Ist er in letzter Zeit in dein Bett gekommen?«
»Nein«, sage ich und verschränke die Hände hinter dem Kopf. »Ich genieße es, es wieder ganz für mich zu haben.«
»Rhine?«, sagt sie. »Wenn er zu dir gekommen ist, dann doch nicht … wegen Kindern.«
»Nein«, sage ich. »So war es nie. Er hat mich nicht mal geküsst.«
»Ich frage mich, warum«, sagt sie und legt sich wieder hin.
»Ist er eigentlich schon mal zu dir gekommen?«, frage ich.
»Ja«, sagt sie. »Ein paar Mal, bevor er anfing, all seine Aufmerksamkeit Cecily zu widmen.«
Das erstaunt mich. Ich denke zurück an Jennas unerschütterliches Morgenritual, in der Bibliothek Tee zu trinken und die Nase tief in Liebesromane zu versenken. Es hat nicht einen einzigen Morgen gegeben, an dem sie zerzaust oder irgendwie indisponiert war – und in einer Verfassung wie Cecily ist sie schon gar nicht gewesen. Sogar jetzt scheint sie ganz gelassen zu sein.
»Wie war es?«, frage ich und sofort schießt heiße Röte in mein Gesicht. Habe ich das eben wirklich gefragt?
»Nicht schlimm«, antwortet Jenna locker. »Er hat sich andauernd erkundigt, ob es mir auch gut geht. Als würde er denken, ich könnte kaputtgehen oder so.« Sie lacht ein wenig bei dem Gedanken. »Wenn ich an jemandem kaputtgehe, dann ganz bestimmt nicht an ihm.«
Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Allein der Gedanke, Linden könnte mich küssen, macht mich nervös und mein Magen verknotet sich. Und dabei haben meine Schwesterfrauen viel mehr getan, als ihn zu küssen. Eine ist sogar schwanger von ihm.
»Ich dachte, du hasst ihn«, sage ich schließlich.
»Selbstverständlich tue ich das«, sagt sie. Ihre Stimme ist wie ein sanftes Summen. Sie legt einen Knöchel auf ihr spitzes Knie und schaukelt lässig mit dem Fuß. »Ich habe sie alle gehasst. Aber so ist die Welt nun mal, in der wir leben.«
»Alle?«
Sie setzt sich auf und sieht mich an, ihr Gesichtsausdruck eine Mischung aus Verwirrung, Mitleid und vielleicht Belustigung. »Wirklich?«, sagt sie, umfasst mein
Kinn mit der Hand und mustert mich. Ihre Haut ist weich und riecht nach den Lotionen, die Deidre für mich auf der Frisierkommode bereitlegt. »Du bist so hübsch und du hast so eine gute Figur«, sagt sie. »Wie hast du Geld verdient?«
Ich setze mich ebenfalls auf, als mir klar wird, was sie mich gefragt hat. »Du dachtest, ich wäre eine Prostituierte gewesen?«, sage ich.
»Also… nein«, sagt sie. »Dafür wirkst du zu lieb. Aber ich hatte irgendwie angenommen … Wie können Mädchen wie wir denn sonst über die Runden kommen?«
Ich denke an all die Mädchen, die auf Neujahrspartys im Park tanzen, und wie manche von ihnen zu reichen Erstgenerationern ins Auto steigen. Ich denke an die vielen Bordelle mit den geschwärzten Fenstern im scharlachroten Bezirk. Manchmal flog eine Tür auf, wenn ich vorbeiging, und ich konnte die laut hämmernde Musik hören und das Funkeln bunter Lichterketten sehen. Mir fällt ein, wie gewandt Jenna an jenem Abend im Orangenhain getanzt hat – und wie charismatisch sie auf diese Männer gewirkt hat, die sie verabscheute. Sie hat an einem dieser dunklen und geheimen Orte gelebt, und ich habe kaum den Mut aufgebracht, auf dem Bürgersteig daran vorbeizugehen.
»Ich dachte, das Waisenhaus hätte dir genug mitgegeben, um zurechtzukommen«, sage ich. Aber mir wird sofort klar, dass das gar nicht wahr sein kann. Rowan und ich hatten genug Waisen daran gehindert, uns zu bestehlen. Das wäre nicht nötig gewesen, wenn sie von den Waisenhäusern versorgt worden wären.
Jenna legt sich wieder hin und ich lege mich neben sie. »Im Ernst?«, sagt sie. »Du hast also noch nie …«
»Nein«, sage ich ein wenig
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