Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totentöchter - Die dritte Generation

Totentöchter - Die dritte Generation

Titel: Totentöchter - Die dritte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
Vom Netzwerk:
defensiv. In meinen Kopf erscheint Jenna jetzt in einem anderen Licht. Doch ich verurteile sie nicht. Ich lege ihr das nicht zur Last. Wie sie schon sagte, so ist die Welt, in der wir leben.
    »Nun, ich weiß nicht, warum er nicht zu dir gekommen ist«, sagt sie. »Ich habe den Eindruck, dass es für alles, was hier geschieht, einen Grund gibt.«
    »Ich kapier das nicht«, sage ich. »Wenn du ihn so hasst, warum weigerst du dich nicht? Linden ist so schwach, ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich einer von uns gewaltsam aufdrängen würde.«
    Allerdings hat mir das schon manches Mal Sorgen gemacht, dass Linden nicht darauf besteht, unsere Ehe zu vollziehen. Hat er mein Zögern gespürt und gewährt er mir den Luxus der Zeit? Wie lange wird es dauern, bis seine Geduld am Ende ist?
    Sie dreht sich zu mir und ich schwöre, einen Augenblick lang steht Angst in ihren grauen Augen. »Nicht er macht mir Sorgen«, sagt sie.
    »Wer denn?« Ich blinzele. »Hausprinzipal Vaughn?«
    Sie nickt.
    Ich denke an Roses Leiche im Keller und all diese unheilvollen Korridore, die sonst wo hinführen könnten. Und ich spüre, dass Jenna, die scharfe Beobachterin, an diesem Ort ihre eigenen Gründe gefunden hat, Angst zu haben. Die Frage liegt mir auf der Zunge: Jenna, was hat Hausprinzipal Vaughn dir angetan?
    Doch ich fürchte mich zu sehr vor der Antwort. Das Bild von Roses Hand unter dem Leichentuch jagt mir
einen kalten Schauer über den Rücken. Hässliche, gefährliche Dinge lauern hinter der Schönheit dieses Hauses. Und ich möchte gern weit weg sein, bevor ich je erfahre, um was es sich dabei handelt.

Die Blätter sprühen immer neue Farben. Seit sechs Monaten bin ich nun hier. Hausprinzipal Vaughn meide ich, wo ich kann. Und wenn er mich beim Abendessen mit Geplauder über das Essen oder das Wetter erfreut, tue ich mein Bestes, zu lächeln und mir nicht anmerken zu lassen, dass seine Stimme mir Scharen von Kakerlaken das Rückgrat hoch und runter jagt.
    Linden trifft mich eines Nachmittags allein im Orangenhain an. Ich liege im Gras und bin nicht sicher, ob er mich gesucht hat oder ob er hier allein sein wollte. Ich lächele ihn an und sage mir, dass ich mich über sein Kommen freue. Da er nun meiner jüngeren Schwesterfrau den größten Teil seiner Aufmerksamkeit schenkt, bietet sich mir kaum noch eine Gelegenheit, seine Gunst zu gewinnen. Doch jetzt sind wir allein am Lieblingsplatz seiner toten Frau, und das scheint mir eine Gelegenheit zu sein, wieder eine Beziehung zu ihm aufzubauen.
    Einladend klopfe ich neben mir auf den Boden und er legt sich ins Gras. Wir schweigen beide, während eine Brise über uns hinwegstreicht.
    Rose ist immer noch in den Bäumen gegenwärtig, das Rascheln der Blätter ist ihr ätherisches Lachen. Linden folgt meinem Blick zum Himmel.

    Eine Weile sagen wir nichts. Ich lausche dem Rhythmus seines Atems und ignoriere die kaum wahrnehmbare Unruhe in meiner Brust, die seine Anwesenheit ausgelöst hat. Sein Handrücken streift meinen. Über uns schwebt eine Orangenblüte in einer perfekten Diagonale zu Boden.
    »Ich fürchte den Herbst. Es ist eine schreckliche Jahreszeit«, sagt er schließlich. »Alles verschrumpelt und stirbt.«
    Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Der Herbst war schon immer meine liebste Jahreszeit. Ein Feuerwerk letzter Schönheit, als hätte die Natur das ganze Jahr für dieses große Finale gespart. Nie wäre mir der Gedanke gekommen, mich davor zu fürchten. Meine größte Befürchtung ist, dass noch ein weiteres Jahr meines Lebens vergehen könnte, während dem ich so weit weg von zu Hause bin.
    Auf einmal scheinen die Wolken so hoch. Sie ziehen in einem Bogen über uns hinweg und umkreisen den Planeten. Sie haben abgrundtiefe Ozeane gesehen und verkohlte, verdorrte Inseln. Sie haben gesehen, wie wir die Welt zerstört haben. Wenn ich alles so sehen könnte wie die Wolken, würde ich dann über diesem verbliebenen Kontinent kreisen, der immer noch so voller Farbe und Leben und Jahreszeiten steckt, und ihn beschützen wollen? Oder würde ich nur über die Sinnlosigkeit des Ganzen lachen und weiter durch die Atmosphäre treiben?
    Linden atmet tief ein und ist so mutig, seine Hand auf meine zu legen. Ich leiste keinen Widerstand. Alles in Linden Ashbys Welt ist Lüge, eine Illusion, aber der
Himmel und die Orangenblüten sind echt. Sein Körper neben mir ist echt.
    »Was denkst du?«, fragt er mich. In unserer Ehe habe ich mir bisher niemals erlaubt, ehrlich zu ihm zu

Weitere Kostenlose Bücher