Totentöchter - Die dritte Generation
wurde. Ein Geschenk von Linden an mich. Ich probiere es aus – es lässt sich öffnen und schließen. Ich setze mich aufs Fensterbrett, rieche die nasse Erde und den kalten Wind, der alles sauber fegt, und denke an die Geschichten, die meine Eltern mir von ihrer Kindheit erzählt haben. Zur Jahrhundertwende, als die Welt noch sicher war, gab es ein Fest namens Halloween. Da ging man mit seinen Freunden in gruseliger Verkleidung raus, um an Türen zu klingeln und um Süßigkeiten zu bitten. Mein Vater sagte, er mochte die am liebsten, die aussahen wie kleine dreieckige Hütchen mit gelben Spitzen.
Jenna, deren Fenster geschlossen bleibt, kommt rüber zu mir. Sie drückt ihre Nase ans Fliegengitter und atmet tief … reist zu ihren eigenen lieb gewordenen Erinnerungen. Sie erzählt mir, dass an Tagen wie diesem im Waisenhaus heißer Kakao ausgeschenkt wurde. Sie und ihre beiden Schwestern haben sich immer einen Becher geteilt und danach hatten sie alle Schokoladenschnurrbärte.
Cecilys Fenster bleibt auch verschlossen, und als sie dagegen aufbegehrt, sagt Linden, die Zugluft sei zu viel für sie in ihrem fragilen Zustand. »Fragiler Zustand«, brummt sie mir zu, als er gegangen ist. »Den werde ich in einen fragilen Zustand versetzen, wenn ich nicht bald aus diesem Bett raus kann.« Aber die Aufmerksamkeit gefällt ihr. Nachts schläft er meistens neben ihr, und er hilft ihr, sich im Lesen und Schreiben zu verbessern. Er füttert sie mit Eclairs und massiert ihr die Füße. Wenn sie hustet, stolpern die Ärzte förmlich übereinander, um ihre Lungen zu untersuchen.
Aber sie ist gesund. Sie ist stark. Sie ist nicht Rose. Und sie ist ruhelos. Eines Nachmittags, als Linden sie gerade nicht nach Strich und Faden verwöhnt, schließen Jenna und ich Cecilys Schlafzimmertür und Jenna bringt uns das Tanzen bei. Uns fehlt Jennas Anmut, doch das ist Teil des Vergnügens. Und während wir Spaß haben, kann ich vergessen, wie Jenna zu so einer hervorragenden Tänzerin geworden ist.
»Oh!«, schreit Cecily auf und bricht ihre ungelenke Pirouette ab. Ich denke schon, sie bricht wieder zusammen oder fängt an zu bluten, doch sie hüpft auf der Stelle und sagt: »Es hat getreten, es hat getreten!« Sie schnappt sich unsere Hände und drückt sie auf ihren Bauch unter dem Hemd.
Wie als Antwort erfüllt ein schrecklich heulender Alarm den Raum. Ein rotes Licht, von dessen Existenz wir gar nichts wussten, blitzt an der Decke auf. Ich werfe einen Blick aus dem Fenster und bemerke, dass der Baum mit dem Rotkehlchennest umgefallen ist.
Unsere Diener kommen und scheuchen uns in den Keller. Cecily ist in Tränen aufgelöst, weil sie nicht in einem Rollstuhl sitzen will, wenn ihre Beine doch absolut in Ordnung sind. Linden hört nicht auf das, was sie sagt, doch daran sind die Alarmsirenen nur zum Teil schuld. Er hält ihre Hand und sagt: »Bei mir bist du sicher, Liebling.«
Die Fahrstuhltüren öffnen sich im Keller und alle steigen aus. Linden, Hausprinzipal Vaughn, Jenna, Cecily und unsere Diener. Aber Gabriel nicht – und er ist der Einzige, der weiß, welche Angst mir dieser Ort macht. Und die Sirenen sind so laut. Ich stelle mir vor, wie der
Lärm an dem kalten Metalltisch rüttelt, auf dem Roses Leiche liegt. Ich stelle mir vor, dass sie ins Leben zurückgerüttelt wird, zusammengenäht und verwesend und kränklich grün verfärbt. Ich stelle mir vor, wie sie sich auf mich zuschleppt, voller Hass, weil sie weiß, dass ich Fluchtpläne schmiede. Sie würde mich lebendig begraben, wenn ich anders nicht an Lindens Seite bleibe, denn er ist die Liebe ihres Lebens und sie will ihn nicht allein sterben lassen.
»Geht es dir gut?«, fragt Jenna. Aus irgendeinem Grund klingt ihre leise Stimme in meinem Ohr viel klarer als der Sirenenton. Ich merke, dass sie meine Hand hält, die ganz verschwitzt ist. Und ich nicke benommen.
Sobald sich die Fahrstuhltüren wieder geschlossen haben, verstummt der Alarm. Die Stille bedeutet, dass alle in Sicherheit sind. Nun ja … jeder, den Linden für wichtig hält. Das Küchenpersonal und alle Dienstboten arbeiten, wie vorhergesagt, noch immer überall im Haus. Sollte der schlimmste Fall eintreten und sie werden alle in den Äther gesaugt, kann man sie ersetzen. Hausprinzipal Vaughn kann ein geringes Gebot auf gute Waisen abgeben.
Wir gehen den Korridor der Schrecken entlang und ich frage: »Wann wird das Essen serviert?«
Eigentlich ist meine Frage: Wo ist Gabriel?
Hausprinzipal Vaughn
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