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Totentöchter - Die dritte Generation

Totentöchter - Die dritte Generation

Titel: Totentöchter - Die dritte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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kannst.«
    »Was noch?« Sie klopft auf die Matratze neben ihr, mit begierigem Blick. »Nein, warte. Erzähl mir von einem anderen Ort. Wie war es in deinem Waisenhaus?«
    Natürlich denkt sie, ich wäre auch in einem Waisenhaus aufgewachsen. Das ist alles, was sie in ihrem kurzen Leben von der Welt gesehen hat.
    Ich setze mich im Schneidersitz auf die Matratze und öffne ihr die Augen. »Ich bin nicht im Waisenhaus groß geworden«, sage ich. »Ich bin in einer Stadt aufgewachsen. Mit Millionen von Menschen und Gebäuden, so hoch, dass dir schwindelig werden würde, wenn du bis zu den Dächern hinaufgucken wolltest.«
    Sie ist fasziniert. Und deshalb erzähle ich ihr von den Fähren und den verseuchten Fischen, die man aus sportlichen Gründen fängt und später wieder zurück ins Meer wirft. Ich lösche mich selbst aus der Geschichte und erzähle ihr stattdessen von einem Zwillingspaar, Bruder und Schwester, die in einem Haus groß wurden, in dem immer jemand Klavier spielte. Es gab Pfefferminzbonbons und Eltern und Gutenachtgeschichten. Die Bettdecken dort rochen alle nach Mottenkugeln und ganz schwach nach dem besten Parfüm der Mutter, weil die sich immer über die Kinder beugte und ihnen einen Gutenachtkuss gab.
    »Sind sie immer noch dort?«, fragt sie mich. »Sind sie erwachsen geworden?«
    »Sie sind erwachsen«, erzähle ich ihr. »Aber eines
Tages kam ein Hurrikan und hat sie auf verschiedene Seiten des Landes geweht. Und jetzt sind sie getrennt.«
    Zweifelnd sieht sie mich an. »Ein Hurrikan hat sie weggeweht? Das ist doch blöd.«
    »Die Wahrheit, ich schwör’s«, sage ich.
    »Und der hat sie nicht getötet?«
    »Das mag sowohl ein Segen als auch ein Fluch sein«, sage ich. »Aber sie leben beide noch und versuchen, wieder zueinander zu finden.«
    »Was ist mit ihren Eltern?«, fragt sie.
    Ich nehme ihr leeres Saftglas vom Nachttisch. »Ich hol dir was zu trinken«, sage ich.
    »Lass das. Das ist nicht deine Aufgabe.« Sie drückt den blauen Knopf über ihrem Nachttisch und sagt: »Cranberrysaft. Und Waffeln. Mit Sirup. Und ein Papierschirmchen.«
    »Bitte«, füge ich hinzu, denn ich weiß, dass ihretwegen alle die Augen verdrehen und es wirklich nur eine Frage der Zeit ist, bis irgendjemand sich vorher die Nase mit ihrer Serviette putzt.
    »Die Geschichte hat mir gefallen«, sagt sie. »Ist sie wirklich wahr? Kennst du diese Zwillinge tatsächlich?«
    »Ja«, sage ich. »Und ihr kleines Haus wartet auf ihre Rückkehr. Die Feuerleiter ist kaputt und früher war es einmal mit Blüten bedeckt. Aber in dieser Stadt ist es nicht wie hier. Die Chemikalien von den Fabriken machen den Pflanzen das Wachsen sehr schwer. Nur die Mutter der beiden konnte Lilien zum Blühen bringen, denn sie hatte magische Hände, doch als sie starb, ist alles verwelkt. Das war’s.«
    »Das war’s«, spricht sie mir zustimmend nach.

    Ich verlasse sie, als es Zeit für ihren Ultraschall wird. Auf dem Flur hält Gabriel mich am Arm zurück. »War die Geschichte wahr?«, fragt er.
    »Ja«, sage ich.
    »Und wie lange, meinst du, wird es dauern, bis der nächste Hurrikan kommt, der dich nach Hause bringt?«
    »Kann ich dir meine größte Sorge anvertrauen?«, sage ich.
    »Ja. Nur zu.«
    »Dass vier sehr windstille Jahre vor uns liegen.«
    Doch es bleibt nicht windstill. Gegen Ende Oktober ist die Wetterlage bedenklich. In der Küche wettet man, in welche Kategorie der erste Hurrikan eingestuft werden wird. Drei ist am beliebtesten. Gabriel meint zwei, denn zu dieser Jahreszeit wäre etwas anderes seltsam. Ich gebe ihm einfach recht, obwohl ich keine Ahnung habe, wovon ich rede. In Manhattan haben wir kein besonders dramatisches Wetter. Immer wenn es sehr windig ist, frage ich: »Ist das ein Hurrikan? Ist er das?«, und die ganze Küche lacht mich aus. Gabriel versichert mir, dass ich es merken werde.
    Das Wasser im Pool scheint zu kochen, und ich habe das Gefühl, die Luft saugt es in die Höhe. Bäume und Büsche peitschen hin und her, Orangen rollen, als würden sie von Geistern herumgekickt. Überall sind Blätter, rote und braun gesprenkelte gelbe. Wenn niemand in der Nähe ist, sammle ich Haufen von Blättern zusammen und vergrabe mich darin. Ich atme ihre Feuchtigkeit. Dabei komme ich mir wieder vor wie ein kleines Mädchen. Ich bleibe in meinem Versteck, bis der Wind sie davonweht. »Ich will mit euch mitkommen«, sage ich.

    Eines Nachmittags kehre ich in mein Zimmer zurück und stelle fest, dass mein Fenster geöffnet

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